Albert Debrunner: „Zu Hause im 20. Jahrhundert“ Hermann Kesten (2017)
Wenn es nach Volker Weidermann ginge, bräuchten wir uns mit Hermann Kesten gar nicht erst zu befassen. In seinem 2008 veröffentlichten Buch der verbrannten Bücher, einer vollständigen Übersicht über die 131 Autoren, deren Werke im Mai 1933 den nationalsozialistischen Bücherverbrennungen zum Opfer gefallenen waren, schreibt er:
Seine Romane – und er hat insgesamt vierzehn geschrieben – taugen nicht viel. Wenn wir von Hermann Kesten nur die Romane, die Bühnenstücke, die Biographien, die Gedichte und die Novellen hätten – wir hätten ihn lange schon vergessen. Es waren Bücher für ihre Zeit, heute liest man darin wie in einer fremden Welt.
Nun war ja Weidermanns Anliegen eigentlich, die Autoren, für die diese Verbrennung fast ein Vergessen für immer bedeutet hätte, wieder in Erinnerung zu rufen. Man fragt sich also, warum er manche unter ihnen genauso schnell wieder abschießt, wie er sie dem Vergessen entreißt, und das auf noch nicht einmal zwei Seiten. Bei allem Respekt vor Weidermanns Anliegen und ganz unabhängig von der tatsächlichen Qualität der indizierten Autoren: Eine Beschränkung aufs Biografische hätte seinem Buch sicher gut getan.
Auch der Schweizer Nimbus-Verlag hat sich im Bereich der Belletristik der Wiederentdeckung vergessener oder verkannter Künstler verschrieben. In seiner Reihe „unbegrenzt haltbar“ unternimmt er jetzt mit der Neuauflage des Romans Die fremden Götter (1949) (Teil II dieses Beitrags) einen bemerkenswerten Hermann-Kesten-Bergungsversuch und knüpft damit an Albert M. Debrunners lesenswerte erste Kesten-Biografie Zu Hause im 20. Jahrhundert vom April 2017 an.
Obwohl sein Werk heute nahezu völlig vergessen ist, war Hermann Kesten von der literarischen Welt der Weimarer Republik über die 30er Jahre bis in die Nachkriegszeit hinein keineswegs unbekannt. Er entstammte einer deutschsprachigen jüdischen Familie aus der polnisch-westukrainischen Grenzregion Galizien. 1904 siedelte er mit seinen Eltern nach Nürnberg über, wo er eine glückliche Kindheit und Jugend verbrachte und als Student seine ersten Schreibversuche unternahm. Der Durchbruch gelang ihm 1927 mit Josef sucht die Freiheit beim Berliner Kiepenheuer-Verlag. Über Vermittlung Fritz Landshoffs, des späteren Leiters der deutschen Abteilung des Querido Verlags, wurde Kesten sogar eine Lektoratsstelle bei Kiepenheuer angeboten, die er – obwohl frisch verliebt in seine spätere Frau Toni – dann auch annahm.
In Berlin schrieb Kesten zwischen 1928 und 1933 Romane und Erzählungen, die selbst von den Manns hoch gelobt wurden. Als Dramatiker, seiner eigentlichen Passion, blieb ihm allerdings der Durchbruch verwehrt. Zugleich standen die Berliner Jahre im Zeichen einer unermüdlichen Lektoratstätigkeit. Kesten entdeckte und förderte nicht nur junge Talente der deutschen Literatur wie Joseph Roth, Anna Seghers, Marie Luise Fleisser und Ödön von Horvath, sondern war auch schon früh grenzüberschreitend als Literaturvermittler aktiv. Mit seinem Sammelband Neue französische Erzähler (1930) erschloss der frankophile Kesten dem deutschen Publikum Autoren wie Jean Giraudoux oder André Malraux und unternahm damit zwölf Jahre nach Kriegsende die entscheidenden Schritte zu einer Wiederannäherung der deutsch-französischen Literatur- und Übersetzungsszene.
„Ich war schon immer ein Freund der Franzosen“
Es überrascht also nicht, dass sich Kesten unmittelbar nach Hitlers Machtergreifung 1933, als die Situation für viele Künstler in Deutschland unerträglich zu werden begann, mit Frau und Mutter nach Paris absetzte, das für ihn – im Gegensatz zum falschen Gold der Berliner 20er-Jahre – immer schon Freiheit und Toleranz symbolisiert hatte. Von dort aus arbeitete er als Lektor für den Amsterdamer Verlag Allert de Lange, den ersten niederländischen Verlag, der eine deutsche Abteilung eröffnete und Exilschriftsteller verlegte, in der Ausrichtung allerdings weniger dezidiert antifaschistisch war als sein Konkurrent Querido. Debrunner zeigt schön, wie sehr diese beiden Verlage von der Zusammenarbeit der ehemaligen Kiepenheuer-Kollegen Landshoff und Kesten profitierten, so dass von einer eigentlichen Konkurrenzsituation unter den Exilverlagen kaum die Rede sein konnte. Zugleich wird die immens politische Dimension des Exilverlagswesens nach 1933 als Grundvoraussetzung für den intellektuellen Widerstand deutlich.
Die Jahre im französischen Exil waren für Kesten mit intensiven Reisen und Ortswechseln und nahezu ausschließlichem Hotelleben verbunden. Geschrieben wurde in Cafés, den zentralen Begegnungsstätten, die gerade auch Schriftstellern in der Emigration oft eine zweite Heimat wurden.1 Die unbeschwerteste Zeit ihres Exils verbrachten die Kestens 1934/35 in Nizza, wo sie zusammen mit Joseph Roth, Heinrich Mann und deren Frauen ein Haus an der Promenade des Anglais mieteten und alle drei historische Romane schrieben, die sich durch die Brille des Vergangenen mit den akuten Problemen der Gegenwart beschäftigten.2 In den folgenden Jahren begegnet man in Kestens reicher Korrespondenz immer wieder Passagen, in denen er nostalgisch auf diese Zeit Bezug nimmt und wiederholt den Wunsch äußert, an die Côte d‘Azur zurückzukehren, was jedoch meist am Finanziellen scheiterte. Tatsächlich gelang ihm und Toni dies noch einmal für kurze Zeit im Jahr 1939. Es kommt sicher nicht von ungefähr, dass Die fremden Götter von 1949 – Kestens erster literarischer Befreiungsschlag aus der düsteren Kriegsthematik – die Stadt Nizza zum Schauplatz haben wird.
Gegen Ende 1936 begann sich die Schlinge für jüdische Exilschriftsteller auch in Frankreich allmählich zuzuziehen. Nach dem Rücktritt der emigrantenfreundlichen Volksfrontregierung Léon Blums wurde die Reisefreiheit für Ausländer eingeschränkt, was zur Folge hatte, dass mangels Mobilität auch Kestens Lektoratsvertrag bei Allert de Lange nicht verlängert wurde. Zugleich erstarkten ringsum die faschistischen Kräfte. Als die französische Regierung pünktlich zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs begann, in Frankreich lebende deutsche Männer als feindliche Ausländer zu internieren, wurde nun plötzlich auch das Exil zu einem bedrohlichen Ort. Ausführlich zitiert Debrunner Kestens drastische Beschreibung seiner zehntägigen Lagerhaft in der ungedeckten Radsportarena von Colombes, in der man 15-20.000 Menschen unter katastrophalen hygienischen Bedingungen einpferchte und der er nur durch Vermittlung befreundeter französischer Schriftsteller wieder entkam.
„Schutzheiliger aller über die Welt Versprengten“
Als deutsche Truppen dann im Mai 1940 auch in Frankreich einmarschierten, setzten die großen Massenfluchtbewegungen ein. Sechs Tage nach der Okkupation, am 18. Mai 1940, gelang Kesten mit dem letzten Schiff von Saint Nazaire aus die Flucht nach New York. Getarnt als Vortragsreisender musste er die Familie vorerst zurücklassen. Kaum in den USA angekommen begann er sich intensiv nicht nur für die Rettung seiner Angehörigen, sondern für die Evakuierung hunderter bedrohter Künstler und Intellektueller im Rahmen des neu gegründeten Emergency Rescue Commitee zu engagieren, dem er und Thomas Mann als beratende Mitglieder zur Seite standen. Kestens Aufgabe bestand zunächst darin, eine Liste besonders gefährdeter Personen zusammenzustellen. Ab Juli 1940 wurde er zum ‚amerikanischen‘ Pendant Varian Frys, des legendären Verbindungsmanns des ERC in Marseille. Kesten war es, der sich während seines ersten Jahres in New York durch die nervenaufreibende amerikanische Bürokratie kämpfte, um diejenigen Emergency Visa zu beschaffen, ohne die eine Ausreise von Frys Schützlingen aus Europa gar nicht möglich gewesen wäre. Dass seine literarische Arbeit in dieser Zeit zu kurz kommen musste, liegt nahe:
Im amerikanischen Exil waren Briefe Kestens Hauptbeitrag zur Literatur. Seinen Briefen verdankten hunderte ihr Leben. „Schutzvater und geradezu Schutzheiliger aller über die Welt Versprengten“ hat ihn Stefan Zweig genannt, denn er wusste, dass Kesten im Stillen Enormes leistete. Zwar wurde sein Einsatz für die Verfolgten durchaus wahrgenommen und fand bis heute immer wieder Erwähnung, doch wurde ihm für seine gewaltige Arbeit nie die gebührende Anerkennung zuteil.
Warum wird Hermann Kesten heute in der Schweiz wiederentdeckt? Trotz großer Dankbarkeit ihrem Exilland Amerika gegenüber war die Sehnsucht vieler deutscher Schriftsteller, wenn auch nicht nach Deutschland selbst, so doch nach einer Rückkehr in die europäische Heimat groß. Ab 1950 wählten die Kestens Rom zu ihrem Lebensmittelpunkt, wo sie über 25 Jahre lang blieben. Nach Tonis Tod zog Kesten auf Einladung Martha Marcs, einer ebenfalls verwitweten Freundin, Ende der siebziger Jahre nach Basel. Sein letztes Lebensjahrzehnt verbrachte er im jüdischen Altersheim La Charmille. Dort ist Albert Debrunner dem über Neunzigjährigen mehrere Male persönlich begegnet. In seiner Nachbemerkung zur Biographie beschreibt er den Eindruck, den diese Begegnungen bei ihm hinterlassen haben („Nie vorher und nie nachher bin ich der Literaturgeschichte so nahe gekommen.“) und den daraus entstandenen Wunsch, Hermann Kesten den Platz in der Erinnerung der Nachwelt zu schaffen, der ihm gebührt.
Gelungene Bergung
Debrunners Biographie ist durchzogen vom Anliegen, die existenzielle Bedeutung des Schreibens und Verlegens als geistigen Widerstand gegen den Faschismus und Hermann Kestens Rolle dabei herauszuarbeiten. Sie zeigt auf, dass Kestens Persönlichkeit – seine Kontaktfreudigkeit und sein besonderes Talent zur Freundschaft (Meine Freunde, die Poeten von 1953 wurde sein bekanntestes Buch), seine intellektuelle Großzügigkeit und sein nie versiegender Optimismus für die deutsche Exilliteratur eine Schlüsselrolle gespielt haben. Kestens unermüdliche Arbeit, die er oft genug unbemerkt im Hintergrund leistete, findet mit diesem Buch eine späte, längst überfällige Anerkennung. Die hochwertige Ausstattung des Bandes, der reichlich farbiges Bildmaterial integriert, unterstreicht diesen Eindruck – ganz im Gegensatz zum schlampigen Lektorat, dem leider diverse Fehler entgangen sind.
Debrunners Biografie zeichnet sich aus durch eine sorgfältige, durchgängig belegte Quellenarbeit. Sie ist spannend zu lesen und getragen von großer Sympathie für Kesten. Als Leserin hätte ich mir hier stellenweise etwas mehr kritische Distanz und pointiertere Analysen gewünscht, z.B. im Nachkriegs-Kapitel Italien, wo sich Debrunner selbst ein wenig vom südländischen Postkarten-Idyll der Piazza della Rotonda einfangen lässt und für meinen Geschmack etwas zu schnell in die (auto)biographische Selbstfeier des kleinen Casanova (1952) mit einstimmt. Dass die Gruppe 47 der jungen deutschen Nachkriegsschriftsteller mit einem Casanova-Kesten, der meinte, ihr von Rom aus „literarischen Nachhilfeunterricht“ (E. Kästner) erteilen zu müssen, nicht allzu viel anfangen konnte, spricht Debrunner recht treffend an. Dass der endgültige Bruch dann eine Folge der Unversöhnlichkeit des jüdischen Exilschriftstellers mit den antisemitischen Restbeständen in der neu sich formierenden Literaturszene der jungen Bundesrepublik war, lässt er die Leser aus dem reichhaltig zitierten Quellenmaterial selbst erschließen.
Im Urteil über Kestens Werk hält Debrunner sich zurück. Er konzentriert sich auf die Nahtstellen von Leben und Schreiben, zeigt Aktualitätsaspekte der Werke vor dem Hintergrund ihrer Zeit auf und gibt punktuell auch Kostproben, vor allem im Bereich der Lyrik. Bei allen Versuchen, auch den literarisch interessierten Leserinnen und Lesern eine Brücke zu Kestens Werk zu schlagen, ist Debrunner nie belehrend, was zugleich eine Leerstelle sichtbar macht: Ein Buch, das auch eine fundierte literaturwissenschaftliche Aufarbeitung des Werks integriert, wie zum Beispiel die große Anna-Seghers-Biographie von Christiane Zehl-Romero, dürfen Leser hier nicht erwarten. In jedem Fall gelingt es Debrunner aber, Interesse an einem Autor zu wecken, den es überhaupt erst wieder zu entdecken gilt.
Dieser Beitrag ist Teil des Grabungsfelds Drôle de guerre
Albert M. Debrunner: „Zu Hause im 20. Jahrhundert“ Hermann Kesten
Nimbus / 450 Seiten / ISBN: 978-3038500322
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