Juan-Carlos Pérez-Cortés: Relationship Anarchy. Occupy intimacy! (2022)

Wer auf facebook ein Profil anlegt, kann zwischen 11 verschiedenen Begriffen zur Angabe des Beziehungsstatus wählen. Und doch trifft keiner davon die hier vorgestellte Variante. Das hat damit zu tun, dass sie noch wenig bekannt ist und dass sie die gängige Norm, über Beziehungen zu sprechen und sie zu leben, radikal in Frage stellt. Andie Nordgren und Jon Jordås formulierten ihre Idee der Relationship Anarchy [RA] erstmals am 20. August 2005 in einem eindrucksvollen Redebeitrag auf dem Anarkisfestival Långholmen, Stockholm. Ein Jahr später ging Nordgrens The short instructional manifesto for relationship anarchy online.

Der Text ist kurz und prägnant, ließ aber viel Interpretationsspielraum offen. Blogger*innen lieferten vereinzelt weitere Beiträge zum Thema. 2018 ergänzte Nordgren selbst den Ansatz. Inzwischen hat das Thema aber auch Eingang in wissenschaftliche Literatur gefunden, die sich mit alternativen Beziehungsformen beschäftigt. 2020 erschien in Spanien eine erste große Monografie dazu: Anarquía relacional. La revolución desde los vínculos. Seit Dezember 2022 liegt diese nun auch in einer 380 Seiten starken englischen Übersetzung vor.

Der spanische Kontext

Warum erscheint so ein Buch in Spanien und warum werden dort nichtnormative Beziehungsformen stärker in den Blick genommen und offensichtlich auch intensiver diskutiert? Ich denke, dieser Umstand schreibt sich einerseits in eine Entwicklung ein, die seit dem Tod Francos 1975 und dem Ende der faschistischen Diktatur eine rasante gesellschaftliche Emanzipationsdynamik in Gang gesetzt hat: Spanien gilt mit seiner Gleichstellungspolitik inzwischen als europäisches Vorbild. Davon haben Frauen ebenso profitiert wie LGBATIQ*. Zum anderen kann Spanien seit der globalen Finanzkrise von 2008, deren Folgen die Bevölkerung hart trafen, mit der damals aufgekommenen Occupy-Bewegung der Indignados auf bemerkenswerte antiautoritäre und antikapitalistische Impulse zurückblicken. Das sichtbarste Erbe dieser Bewegung ist heute die linkspopulistische Partei Podemos, die die Weichen für die meisten der in den letzten Jahren erlassenen Gleichstellungsgesetzte stellte.

Diese Situation, verbunden mit der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise, die sich in den 10er Jahren bis ins innerste der privaten Beziehungen hineinfraß, ließ vielleicht auch verstärkt die Frage aufkommen, ob neben alternativen Formen des Wirtschaftens nicht auch andere Formen privater zwischenmenschlicher Beziehungen möglich sind, Formen, die dem hegemonialen Modell entzogen sind, die sich lösen von den Erwartungen traditioneller Familienstrukturen und den Zwängen der klassischen Paarbeziehung und die zugleich großzügiger, integrativer und weniger hierarchisch in der Auslegung dessen auftreten, wer mir in meinem Leben wichtig ist und für wen ich einstehen, mit wem ich ein Netzwerk bilden möchte.

Der Verfasser des vorliegenden Buches, Juan-Carlos Pérez-Cortés, erforscht künstliche Intelligenz an der Polytechnischen Universität Valencia. Mit nicht-normativen Beziehungsfragen befasst er sich vor allem privat als Mitglied von ARAEN Valencia (Asociación para las Relaciones Afectivas Éticas). Die ARAEN organisiert unter anderem die OpenCon, eines der meistbesuchten Beziehungsaktivismus-Treffen Europas.

Kein Alibi für schnellen Sex

Der Anarchiebegriff wird gerne negativ assoziiert mit Gesetzlosigkeit, Aufruhr und Chaos. Die Relationship Anarchy trägt zwar durchaus Sprengkraft in sich, aber sie entfaltet diese eher subtil und nicht da, wo Uneingeweihte es vielleicht erwarten würden. Was ist also Beziehungsanarchie? Oder besser: Was ist sie nicht? The thinking Aro, eine bloggende Person aus dem aromantisch-asexuellen Spektrum, bringt diese Frage 2016 kraftvoll auf den Punkt:

So don’t tell me that you’re entitled to call your polyamory or your casual sex “relationship anarchy,” as you conduct your social life with anti-anarchism principles and the same amatonormativity that all the coupled up monogamists preach and believe in. Don’t tell me you’re a “relationship anarchist” when you don’t give a fuck about friendship or community or political resistance, just sex and romance and your freedom to be nonmonogamous. Relationship anarchy is not a cover for fuckboys [and fuckgirls]. And it is not nonhierarchical polyamory.

Beziehungsanarchie hat also nichts mit wilder Promiskuität zu tun und sie ist auch kein Alibi für schnellen Sex, womit die schlimmsten Befürchtungen schon einmal ausgeräumt wären. Doch jetzt wird es komplizierter, wenn nicht sogar verstörend: Beziehungsanarchie hat tatsächlich auch nichts mit „Amatonormativität“ zu tun, also dem Grundsatz, dass romantische Liebe und Sex („Allosexismus“) Bedingungen dafür sind, dass Beziehungen tatsächlich als solche gelten und wahrgenommen werden. Vielmehr geht es der Beziehungsanarchie gerade darum, alle gängigen Zuschreibungen, denen der normative Begriff der Paarbeziehung unterliegt, aufzubrechen und mit ihnen auch die strenge Hierarchie, die er gegenüber anderen Formen zwischenmenschlicher Beziehungen etabliert. Die Standardfrage, mit der hier meist das Terrain sondiert wird, ist bekannt: „Habt ihr eine Beziehung oder ist es (nur) Freundschaft?“. Handelt es sich um ersteres, greift unverzüglich die gesamte Kette an Assoziationen, die der Begriff des „relationship escalator“ treffend einfängt: Zwei Menschen begegnen sich, verlieben sich, lernen einander immer besser kennen, haben Sex miteinander (die Reihenfolge kann variieren), machen ihre Beziehung gegenüber dritten bekannt, teilen immer mehr Dinge, z.B. den Wohnraum, entwickeln gemeinsame Lebenspläne, z.B. Nachwuchs, und setzen sie um oder auch nicht. Wenn nicht, geht das ganze Spiel wieder von vorne los.

Das Paarprivileg

Was hier zugleich entsteht, ja was unweigerlich zu greifen beginnt sobald zwei Menschen sich das Partner*innen-Label anheften ist das sogenannte Paarprivileg: ein automatischer Anspruch auf emotionale und pragmatische Vorrechte wie etwa besondere Aufmerksamkeit und Fürsorge, ein erhöhtes Maß an zeitlicher Verfügbarkeit, wechselseitige Transparenz in Kommunikation und Lebensführung sowie Exklusivität in den unterschiedlichsten Belangen. Beziehungsanarchist*innen empfinden die gesellschaftliche Erwartungshaltung, die damit verbunden ist, als Zwangsmoment. Den Umstand, dass Erwartungen an die Partner*innen im hegemonialen Modell immer schon vorgegeben sind, sehen sie als Hemmnis im Prozess der freien und selbstbestimmten Begegnung zweier Menschen und – in einem weiteren Schritt – auch als Hemmnis für den Aufbau selbstbestimmter affektiver Netzwerke.

Angepasstes Poly

Entsprechend wird auch die konzeptionelle Abgrenzung gegenüber der Polyamorie damit begründet, dass diese das hegemoniale Beziehungsmodell an sich nicht in Frage stellt und es lediglich vervielfacht, dass sie die Norm also nur in einem Parameter, nämlich dem der Monogamie herausfordert, in allen anderen Belangen aber aus einem Impuls der Selbstrechtfertigung heraus stets bemüht war, ihre Angepasstheit unter Beweis zu stellen: „Relationship Anarchy doesn’t focus on multiplying relationships. It focuses on new ways of relating and communicating, not the number of partners. ‚Poly‘ is just another outcome!“, meint Andie Nordgren 2006. Eine vor diesem Hintergrund kritisch reflektierte Monogamie passt also durchaus auch ins Konzept der Relationship Anarchy.

The „genderqueer relationship hacker“

Beziehungsanarchie ist also verbunden mit einem Prozess der Dekonstruktion des hegemonialen Modells der Paarbeziehung, das in all seinen – inzwischen schon völlig unbewussten, zur „Natur“ gewordenen – Voraussetzungen akribisch seziert und als Teil herrschender gesellschaftlicher Machtstrukturen entlarvt wird. Nicht umsonst sieht Nordgren sich selbst als „genderqueer relationship hacker“. Die Schwäche des Manifesto liegt jedoch darin, dass Nordgren zwar ein radikal alternatives Modell aufzeigte und zu einer Neubestimmung von Beziehungen aufrief („customize your relationships!“), dabei aber nicht so weit ging, auch die diskursiven Machtverhältnisse zu analysieren, die seit Jahrhunderten auf unser Verständnis von Beziehung einwirken und es geformt haben und die der Entstehung eines neuen Beziehungsverständnisses massiv im Weg stehen. Erst wenn man dies erkennt, wird klar, dass beziehungsanarchistisches Denken sich einschreibt in eine lange Tradition emanzipatorischer politischer und intellektueller Schlachten. Dazu gehören die Ideen des politischen Anarchismus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenso wie die des Feminismus und der Queer- und Gender-Studies, von Postmoderne und Dekonstruktion und nicht zuletzt auch die Erkenntnisse der postkolonialen Studien. Aus all diesen Perspektiven kann das traditionelle Beziehungs- und Familienmodell kritisch in den Blick genommen werden.

Historische und intellektuelle Wurzeln

Der kommunistische Anarchismus des 19. Jahrhunderts als politische Bewegung ist das Produkt der Erkenntnis, dass privates Kapital eine Quelle der Tyrannei bestimmter Individuen über andere ist. In diesem Modell spielt die klassische Kernfamilie insofern eine zentrale Rolle, als sie zum Subjekt und langfristigen Träger von Privateigentum wird und somit neben Staat und Kirche als dritte Säule im System kapitalistischer Zwangsherrschaft in Erscheinung tritt. Beziehungsanarchie schreibt sich also klar ein in die Tradition des Antikapitalismus.

Schon bald wurde es den in anarchistischen politischen Kreisen aktiven Frauen klar, dass sie bei der Idee einer Befreiung des Individuums nicht mitgemeint waren und dass sie das deshalb tunlichst selbst in die Hand nehmen mussten. Die ersten aus dem Anarchismus hervorgegangenen feministischen Positionen zielen deshalb auf eine direkte Konfrontation des Patriarchats ab. Der Anarcho-Feminismus des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts war also der Nährboden, auf dem das Persönliche und das Politische erstmals verknüpft wurden, auf dem freie Liebe und die sexuelle Emanzipation der Frauen einem Unterdrückungssystem entgegengesetzt wurden, das tief verwurzelt war in religiöser Moralität, der Macht des Klerus und der Institution Ehe mit all ihren ökonomischen und rechtlichen Abhängigkeiten. Ein Klassiker dieses frühen anarchofeministischen Denkens ist Emma Goldmans 1897 veröffentlichter Essay Marriage, eine bittere Anklage und zugleich ein Frontalangriff auf die Institution Ehe. Beziehungsanarchie ist somit auch Teil der Tradition feministischer Kämpfe gegen das Patriarchat.

Seit den 90er Jahren haben die Genderstudies und in der Folge auch die Queere Theorie (als intuitiverer Begriff für LGBATIQ*-Theorie) eine weitere mächtige Bastion konservativ-patriarchalen Denkens in Angriff genommen, indem sie sich daran machten, gängige binäre Konzepte und Begriffe wie Geschlecht (männlich/weiblich), und sexuelle Orientierung (homo-/heterosexuell) als Machtinstrumente zu entlarven und diese zu dekonstruieren. Dabei greifen sie auf Werkzeuge zurück, die der Poststrukturalismus und die Diskursanalyse bereitgestellt hatten. Derrida, Foucault, Butler u.a. verorteten Wissen im Bereich kultureller Konstruktion und zeigten auf, dass es weder natürlich noch universell sondern Produkt einer kollektiven gesellschaftlichen Erzählung und als solches subjektiv, divers und wandelbar ist. Demnach ist auch Geschlecht nichts Naturgegebenes, sondern in seiner sozialen Variante (gender) gesellschaftlich konstruiert und somit den hegemonialen Interessen und deren Machterhaltung unterworfen. Es ist wichtig, zu verstehen, dass „Macht“ hier keine persönliche Komponente mehr hat, sondern in Gestalt verfestigter Diskurse alle Lebensbereiche (Traditionen, Bräuche, Moden, Sprache etc.) durchdringt. Sie kommt dabei so subtil daher, dass sie in der Regel auch von denjenigen mitgetragen wird, die eigentlich unter ihr leiden, dies oft aber nicht einmal bemerken oder die bestehenden Verhältnisse nicht in Frage stellen, weil der Diskurs sie ihnen als naturgegeben verkauft. Dies gilt auch und nicht zuletzt für unsere Vorstellungen von Beziehung. Pérez-Cortés sieht hier eine klare Parallele zur Relationship Anarchy insofern als deren zentrales Anliegen darin besteht, in der Kategorie „Beziehung“ die Opposition intim/nicht intim aufzubrechen.

Aber ist das eigentlich notwendig?

Aros und Aces: „Wie? Die wollen jetzt auch?“

Nehmen wir den oft gar nicht erwähnten und nur unter den „*“ fallenden Buchstaben „A“ aus LGBATIQ*: die Gruppe der sich als aromantisch und/oder asexuell definierenden Personen (Aros und Aces wie z.B. The thinking Aro vom Zitat oben). Der klassischen Vorstellung nach hätten diese Personen schlicht keinen Zugang zu dem was die gesellschaftliche Mehrheit unter einer ernstzunehmenden, verbindlichen Beziehung versteht, weil sie sich (entweder) nicht romantisch verlieben oder/und kein Bedürfnis nach Sex verspüren. Dies heißt aber keineswegs, dass sie nicht auch das Bedürfnis haben, Beziehungen und für sie wichtige Verbindlichkeiten mit anderen Menschen einzugehen.

Eine Aufhebung des Gegensatzes intim/nicht intim zur Kategorisierung von Beziehungen ist also aus der Sicht der Queeren Theorie durchaus sinnvoll. Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, sie als Zugeständnis an eine Minderheit zu sehen, die diesen Gegensatz nicht leben kann. Das Anliegen von Beziehungsanarchist*innen ist sehr viel weitreichender.

Sensibilität statt Identität

Wie wir gesehen haben ist die Relationship Anarchy nicht gleichzusetzen mit einer egoistischen Form von Hedonismus. Eine solche sehen Beziehungsanarchist*innen eher in der traditionellen Paar- und Familienstruktur am Werk. Nein, die Beziehungsanarchie versucht, Raum zu schaffen für affektive Formen von Begegnung, die sich keinen Labels unterwerfen, die sich frei entwickeln und folglich auch verändern dürfen, die in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit hierarchiefrei bleiben und deren oberster Grundsatz die Selbstbestimmtheit jeder*s Einzelnen ist. Dabei erhebt die RA für sich selbst keinen Identitätsanspruch (hegemoniale Identität versucht sie ja gerade zu unterlaufen) und ersetzt deshalb den Identitätsbegriff durch den der Sensibilität.

Ist Beziehungsanarchie lebbar?

Die möglichen Wege, die Pérez-Cortés aufzeigt, um RA zu leben, zielen somit durchweg ab auf ein kritisches  Hinterfragen der mit dem hegemonialen Denken verbundenen Vorstellungen von Beziehung und einer kritischen Selbsterforschung dahingehend, wo deren Mechanismen im eigenen Beziehungsleben wirksam werden. Er empfiehlt zum Beispiel:

  • das Paarprivileg aufzugeben und der Entwicklung anderer Beziehungen ebenso viel Raum zuzugestehen, unabhängig davon, ob romantische Liebe und/oder Sex im Spiel sind oder nicht.
  • darauf zu achten, dass alle Verbindlichkeiten im Rahmen einer Beziehung von beiden Seiten stets freiwillig, bewusst, verantwortlich, loyal und im Kern wechselseitig eingegangen werden.
  • nach dem Ursprung des Bedürfnisses zu forschen, Meilensteine der Entwicklung einer Beziehung bzw. Übergänge von einer Phase in eine andere öffentlich kundzutun (häufig steht ein Sicherheitsbedürfnis dahinter)
  • das Bedürfnis nach einem Label zuzulassen, wenn es beruhigend wirkt, zugleich aber auch zu bedenken, dass die damit gewonnene Sicherheit mehr imaginär als real ist und durchaus auch Quelle unnötiger Konflikte sein kann.
  • darüber nachzudenken, wie ethisch und den eigenen moralischen Prinzipien entsprechend es ist, Dinge auszuhandeln, die über meinen Körper, meine Gegenwart und meine direkte Interaktion hinausgehen; zu reflektieren, wer sonst noch – gegenwärtig und zukünftig – davon betroffen ist.
  • zu prüfen, ob auf gleicher Ebene verhandelt wird oder ob Asymmetrien und Machtgefälle im Spiel sind.
  • zwischen Ehrlichkeit und Transparenz klar zu unterscheiden. Ehrlichkeit als Bedürfnis, das was wichtig ist und alle Involvierten betrifft, zu teilen, ist ein Wert an sich. Gleichwohl besteht auch innerhalb einer Beziehung ein Recht auf Privatsphäre und muss nicht alles (mit)geteilt werden. Pérez-Cortés weist darauf hin, dass ein rigides Transparenzgebot gerade innerhalb asymmetrischer Beziehungen den schwächeren Part benachteiligen kann, versäumt es aber leider, dies an einem Beispiel zu illustrieren.

Nicht nur hier sondern auch an vielen anderen Stellen zeugen Pérez-Cortés Ausführungen von einer außerordentlichen Sensibilität für oft nur unbewusst wirksam werdende Machtverhältnisse. Doch genau dies wird ihm meines Erachtens auch zum Problem, denn mit fortschreitender Lektüre drängte sich mir immer mehr der Verdacht auf, dass er seine Ansätze zur positiven Gestaltung von Beziehungsanarchie selbst dekonstruiert. Ab der Mitte beginnen sich die Schwierigkeiten der Umsetzung, die er aufrichtig und analytisch subtil aufzeigt, zu häufen. Nur ein paar Beispiele:

  • die Gefahr der Überforderung, die besteht, wenn nichts vorgegeben ist und alles individuell ausgehandelt werden muss
  • das Problem ungleicher Machtverhältnisse, die sich überall dort einschleichen können, wo Verbindlichkeiten egalitär ausgehandelt werden sollen
  • die Gefahr der Selbstüberforderung beim Anspruch, ein herausforderndes persönliches Beziehungsmodell auch in seiner politischen Dimension zur Geltung zu bringen.
  • die Gefahr des Kippens bestimmter Postulate, wie z.B. Hiearchiefreiheit und Horizontalität ins Dogmatische
  • das Problem rechtlicher Anerkennung, die, je nach Ort, an dem gelebt wird, gewährt oder verwehrt werden kann, die vielfach noch den besonderen Schutz der Kernfamilie und der Blutsverwandtschaft vorsieht und wenig Raum lässt für Alternativen
  • und nicht zuletzt auch der blinde Fleck, den Pérez-Cortés darin ausmacht, dass er selbst seine theoretische Position aus einer strukturellen Privilegiertheit als weißer cis-hetero-Mann heraus artikuliert; er erkennt, dass keineswegs alle Menschen in der materiellen und gesellschaftlichen Lage sind, sich in ihrem Alltag ein affektives Experiment wie die Beziehungsanarchie leisten zu können

Was ich bei der Lektüre zum Teil als Selbstzweifel des Autors am eigenen Konzept wahrnahm, scheint mir vor allem darin begründet, dass er als Identitäten zerlegender Beziehungsanarchist zugleich alles daran setzt, nicht selbst wieder in die identitäre Falle zu tappen: „There is a rising temptation to designate myself as a relationship anarchist, […] there is a danger that the collective roots of an identity will, over time, will give rise to a new normativity. The fact, that the very essence of relationship anarchy is self-management renders this meaningless, but in the absence of vigilance, it can’t be ruled out“ (Pérez-Cortés, S. 307).

„Simply try and apply it!”

Der Kern der RA ist also Selbstmanagement, weshalb auch jeder präskriptive Ansatz vermieden werden soll und ein grundsätzlich deskriptiver Gebrauch des Identitätsbegriffs angeraten wird. Die Folge ist, dass Pérez-Cortés dann in seinen Ausführungen zu einem Kerngedanken der RA, nämlich dem der sozialen Netzwerke, recht vage bleibt. Er stellt zwar immer wieder die besondere Bedeutung des Netzwerkgedankens, der autonomen Selbstverwaltung und gegenseitigen Fürsorge heraus, was ja auch ein zentrales Element des politischen Anarchismus des 19. Jahrhunderts war. Er betont, dass gemeinschaftliches Wohnen zwar möglich ist, aber nicht sein muss. Er verweist auf alternative Wohnmodelle und experimentelle Formen des Zusammenlebens wie man sie auf verschiedenen Nachhaltigkeitsplattformen bereits findet. Er verschließt nicht die Augen vor den negativen Erfahrungen, die vergangene Generationen wie etwa die der 60er und 70er Jahre mit kommunitären Formen des Zusammenlebens gemacht hatten und kommt hier erneut auf die Gefahr von Asymmetrien, v.a. im Bereich Gender zu sprechen, also das Risiko, dass Care-Arbeit in solchen Netzwerken häufig an den Frauen hängen bleibt. Man sieht also, dass die permanente Selbstbefragung auch auf Netzwerkebene nicht aufhört, sondern als Daueraufgabe bestehen bleibt. Über die ermutigende Aufforderung, sich mit Gleichgesinnten zusammenzutun und es einfach auszuprobieren hinaus wird Pérez-Cortés aber nicht wirklich konkreter. Ich ertappe mich hier selbst in meinem heimlichen Wunsch nach einem „Rezept“ oder zumindest nach konkreteren Beispielen.  Tatsächlich ist die Offenheit des Konzepts manchmal schwer auszuhalten.

Ein wertvolles Werkzeug

Die Relationship Anarchy so wie Pérez-Cortés sie präsentiert, liefert wertvolle gedankliche Impulse, unsere Vorstellungen von Beziehung zu hinterfragen, sie jenseits der sich über Jahrhunderte verfestigten und immer noch massiv wirksamen gesellschaftlichen Erwartungen selbstbewusster und freier zu gestalten und damit auch einer Bildung von affektiv-solidarischen Netzwerken Vorschub zu leisten. Deshalb sehe ich in ihr ein wertvolles emanzipatorisches Werkzeug. Die Polyamoriebewegung hat das längst schon bemerkt und sich dieses Werkzeug zumindest teilweise angeeignet. Besucher*innen von Polystammtischen definieren heute durchaus spezifische, auf ihre individuellen Bedürfnisse und Möglichkeiten zugeschnittene und nicht zwingend den Vorgaben des relationship-escalator entsprechende Beziehungsformen. Dass dabei allzu detailverliebte Definitionsbemühungen in eine regelrechte Beziehungsbürokratie münden können, sieht Pérez-Cortés eher kritisch. Wohl aus diesem Grund findet man bei ihm auch kein Smørgasbord der Relationship Anarchy mehr – eine Art Buffet aus möglichen Komponenten einer Beziehung, aus denen die Partner*innen dann auswählen, bzw. auf die sie sich einigen. Dieses Smørgasbord wurde im Anschluss an Nordgrens Aufruf „Customize your relationships“ entwickelt, von der Kritik im Ansatz aber bald schon als zu neoliberal und individualistisch eingestuft. Relationship Anarchy wie Pérez-Cortés sie versteht, ist sensibel dafür, dass Beziehungen und Netzwerke Raum und Zeit brauchen, um sich organisch entwickeln zu können und dass es verfehlt wäre, sie allzu sehr planen, organisieren oder managen zu wollen. Auch von dieser Erkenntnis können ethisch nicht-monogame Beziehungsformen vielleicht lernen.

Und für alle Beziehungsanarchist*innen, die jetzt ein facebook-Konto eröffnen wollen: Euer Beziehungsstatus müsste etwa so lauten: „Hat einzigartige, wertvolle Bindungen (und nicht alle beinhalten Romantik oder Sex)“.

Dieser Beitrag erscheint in der 2023er Ausgabe des feministischen Untergrundmagazins Die Krake


Juan-Carlos Pérez-Cortés: Anarquía relacional. La revolución desde los vínculos. (2020)

La oveja roja / 426 Seiten / ISBN ‎ 978-8416227334

Juan-Carlos Pérez-Cortés: Relationship Anarchy. Occupy intimacy! (2022)

Englisch von Amanda Foy / Independently published / ISBN 979-8368039442