Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein (~1967/2018)

Hannah Arendt: Über die Revolution (1965)

„Die Freiheit, frei zu sein“ – dieser schmale, nur 35 Seiten lange Essay ist wahrscheinlich eine der ungewöhnlichsten Neuerscheinungen in der Sphäre des aktuellen Mai-68-Jubiläums. Und doch überrascht es, dass dieser Bezug weder vom Verlag noch im Nachwort von Thomas Meyer hergestellt wird, obwohl er sich fast schon aufdrängt: Es handelt sich um einen Vortrag, der erstmals aus dem Nachlass von Hannah Arendt veröffentlicht wurde, wahrscheinlich 1967 entstanden ist und im selben Jahr an der Universität von Chicago gehalten wurde. In einer Veranstaltung des Münchner Literaturhauses1 evoziert Meyer lebendig das ungewöhnliche Setting dieses Auftritts: Vor dem versammelten Establishment der philosophischen Fakultät steht eine Frau, die entschuldigend anhebt, ihr Thema, so fürchte sie, sei „fast schon beschämend aktuell“. Es gehe ihr um Revolutionen, wie man sie auch gegenwärtig erlebe, wenn Völker der postimperialistischen Ära sich erheben, um – die amerikanische Unabhängigkeitserklärung zitierend – „unter den Mächtigen der Erde den selbständigen und gleichen Rang einzunehmen, zu dem die Gesetze der Natur und ihres Schöpfers sie berechtigen“. „Beschämend aktuell“ sind in dieser Zeit vor allem die Kubakrise, der Algerien- und der Vietnamkrieg. Sie alle tragen schon den Keim der 68er-Revolte in sich, die die westliche Welt bald erfassen sollte.

Während Aktualität für die klassischen Vertreter einer Fakultät für Philosophie kein ernstzunehmendes Kriterium gewesen sein dürfte, stand Arendt als politische Theoretikerin – die Bezeichnung „Philosophin“ lehnte sie für sich stets ab – solchen Fragen und somit nicht zuletzt auch der Studentenbewegung vom Mai 68 mehr als aufgeschlossen gegenüber. Es ist bezeichnend, dass ihr Seminar über Grundsätze der Moral das einzige an der Universität von Chicago war, das nicht boykottiert wurde. Auch Daniel Cohn-Bendit, dem Sohn ihrer Freunde, sicherte sie nach dessen Ausweisung aus Frankreich brieflich ideelle und finanzielle Unterstützung zu. Und in einem Brief an Karl Jaspers vom Juni 1968 ließ sie sich sogar zu der Bemerkung hinreißen: „Die Kinder des 21. Jahrhunderts werden einmal das Jahr 1968 so lernen wie wir das Jahr 1848.“ Zählte Mai 68 für Hannah Arendt also mit zu den großen Befreiungsschlägen der politischen Geschichte der Neuzeit?

Dass in der dtv-Ausgabe von Arendts Vortrag dieser Bezug vollständig ignoriert wird, kann verschiedene Gründe haben. Es mag daran liegen, dass sich professorale Nachworte auch heute noch ungern dem Aktualitätsverdacht aussetzen, zumal wenn sie damit in den Dunstkreis der 68er geraten. Man kann allerdings auch theoretische Einwände geltend machen. Was bedeutete „Freiheit“ und der in Arendts Denken eng mit ihr verbundene Begriff der „Revolution“? Ist er auf die 68er Revolte überhaupt anwendbar?

Amerikanische und französische Revolution

Es sind vor allem die beiden großen Revolutionen des 18. Jahrhunderts, die amerikanische und die französische, an deren Beispiel Arendt aufzeigt, dass Ereignisse, die ihrer Auffassung nach diesen Namen verdienen, darauf abzielen, die bestehende politische Ordnung zu überschreiten, um den Menschen ihre ursprüngliche Freiheit wieder zurückzugeben. Diese Freiheit ist für Arendt mehr als nur die negative Variante des Freiseins von Not und Unterdrückung, denn sie schließt ganz wesentlich die Freiheit politischer Teilhabe mit ein. Das tiefere Ziel einer Revolution muss demnach die Geburt einer neuen Regierungsform sein:

Es ist schwer zu entscheiden, wo der Wunsch nach Freiheit, also frei zu sein von Unterdrückung, endet und wo der Wunsch nach Freiheit, also ein politisches Leben zu führen, beginnt. Entscheidend ist, dass sich eine Befreiung von Unterdrückung auch unter einer monarchischen (aber nicht tyrannischen) Regierung hätte erreichen lassen, wohingegen die Freiheit einer politischen Lebensweise eine neue, oder besser: wiederentdeckte Regierungsform erforderte. Sie verlangte nach der Verfassung einer Republik. (16)

Gemessen an diesem Kriterium, gesteht Arendt allein der amerikanischen Revolution einen „triumphalen Erfolg“ zu, während es der französischen Revolution unter ungleich schwierigeren sozialen Ausgangsbedingungen immerhin gelungen sei, „die Armen aus ihrer Verborgenheit, aus der Nicht-Sichtbarkeit“ zu befreien. Die französische Revolution habe erstmals die Unwiderstehlichkeit der Kräfte einer Massenbewegung sichtbar gemacht, die das moderne Verständnis von Revolution in stärkerem Maße prägen sollte als das politisch weitaus erfolgreichere Ereignis in Amerika. Und doch musste im nachrevolutionären Frankreich der entscheidende Schritt zur politischen Beteiligung des Volkes noch der aufgeklärte Traum eines kleinen Kreises gesellschaftlich privilegierter hommes de lettres bleiben. Die französische Revolution zählt nach Arendt somit zur gefährlichen Variante der „deformierten“ oder „abgebrochenen“ Revolutionen. Beiden gemeinsam bleibt jedoch das enorme Pathos des Neubeginns, das sie erst im Lauf der revolutionären Ereignisse selbst entwickelten und das die Idee des Ausbruchs aus der Vorstellung einer zyklischen Wiederkehr des Gleichen sowie des Aufbruchs in ein neues Zeitalter erstmals in das politische Denken der Neuzeit einführte.

Arendts kurzer Essay beeindruckt in der Klarheit seines Stils und ist doch von einer inhaltlichen Komplexität und einem Voraussetzungsreichtum, die die Lektüre nicht ganz einfach machen. Dies sollte allerdings nicht überraschen, denn, soweit ich sehe, handelt es sich bei Die Freiheit, frei zu sein um ein extremes Kondensat ihrer großen Studie On Revolution von 1963.

On Revolution – ein sehr persönliches Buch

Dieses umfangreiche Werk stand bei seinem Erscheinen ein wenig im Schatten der Kontroversen um die Banalität des Bösen, Arendts etwa zeitgleich publiziertes Fazit aus ihrer Berichterstattung zum Eichmann-Prozess. Es fand in akademischen Kreisen zunächst wenig Beachtung und stieß bei denen, die es rezipierten – Historikern, Soziologen, Politikwissenschaftlern – durchaus auf Kritik. Diese Kritik betraf sowohl die Enge und das Idealtypische von Arendts Revolutionsbegriff wie auch die umstrittene Frage, ob man bei der amerikanischen Revolution tatsächlich von einer solchen sprechen könne. Viele waren irritiert von der seltsamen Mischung aus konservativen und progressiven Ideen, die sie hier vorfanden und nur wenige ihrer Leser dachten darüber nach, worum es ihr eigentlich ging. Elisabeth Young-Bruehl schreibt hierzu in ihrer großen Hannah-Arendt-Biographie:

Nur Bernard Crick von der Universität London, der Arendt für „den originellsten Kopf im modernen politischen Denken“ hielt, gab nicht nur zu, daß er über Arendts Bewunderung der Gründerväter verblüfft war, sondern bot auch eine Erklärung an: „Jeder Deutschamerikaner tut es irgendwann aus Dankbarkeit“. ‚Über die Revolution‘ war gewiss eine Geste der Dankbarkeit. Arendts Porträt der Gründerväter war im buchstäblichen Sinne des Wortes fabulös, aber ihre Fabel war von einer besonderen Art: eine politische Fabel. Merle Fainsod, der Politikwissenschaftler, war einer der wenigen, die erkannten, daß Arendts Desinteresse an der „Geschichte der Revolutionen als solcher, ihrer Vergangenheit, ihren Ursprüngen und ihrem Entwicklungsgang“ nicht zufällig war und daß sie sich mit dem befasste, was er „sinnvolle Revolution“ nannte – sinnvoll für die Gegenwart und für die Zukunft.2

Eine „Geste der Dankbarkeit“ dem Land gegenüber also, das so vielen vom Terrorregime der Nationalsozialisten bedrohten Intellektuellen nicht nur Zuflucht und damit die bloße Sicherung des Überlebens ermöglicht hatte, sondern auch den Raum zur Entfaltung derjenigen Freiheit bot, um die es Arendt gerade ging. Deshalb ist diese Erzähung auch wesentlich mehr als nur eine „politische Fabel“. Sie ist ein Instrument, das sie benutzte, um sich mit aller Kraft gegen ihr katastrophales Jahrhundert zu stemmen und Möglichkeiten wie auch Grenzen alternativen politischen Handelns auszuloten. Hannah Arendt war auf intensiver Suche nach dem, was an Überliefertem für die Gegenwart fruchtbar gemacht werden kann. Dabei gehört ihr Gedanke, dass entgegen aller Last der Tradition ein Neuanfang stets möglich ist, zum „Unerhörtesten, was die moderne Geschichte des Denkens zu bieten hat“ (Meyer).

Geradezu bestätigt wird dieser Befund durch die verspätet einsetzende Wirkung von On Revolution: In der Anfangsphase der Studentenbewegung drängte sich das Buch neben Camus Der Mensch in der Revolte als Lektüre regelrecht auf und wurde Mitte bis Ende der 60er Jahre viel gelesen und kontrovers diskutiert. Aus Arendts Sicht kam Mai 68 dann aber doch über ein „Schulbeispiel der viel beredeten und oft mißverstandenen revolutionären Situation“ nicht hinaus: Die Revolution blieb aus, „weil niemand, am wenigsten natürlich die Studenten selbst, daran dachte, die Macht zu ergreifen und damit die Verantwortung zu übernehmen.“3 Und doch scheint die Unruhe, die entsteht, wenn man Arendts Gedanken in neue Zusammenhänge stellt, ihre Wirkung bis heute nicht verloren zu haben.

Warum ein Spiegel-Bestseller?

Erstaunlicherweise hat es Die Freiheit, frei zu sein im März 2018 auf Platz drei der Spiegel Bestsellerliste geschafft. Dies mag der befreienden Wirkung geschuldet sein, die bekanntlich schnöder Konsum allein schon zu entfalten vermag, wie Der Standard spöttisch bemerkt. Man könnte es mit Thomas Meyer aber auch optimistischer sehen und davon ausgehen, dass ein großer Teil der modernen Leserschaft sich eben doch nicht gerne unterfordern lässt.

Ich würde einmal folgende Vermutung wagen: Ein berühmter, intellektuellen Anspruch verbürgender Name verbindet sich mit einer überraschenden Kürze der Darstellung und einem Begriff, der einen Nerv der Zeit trifft. Könnte es nicht am aktuellen Zustand der westlichen Demokratien selbst liegen, dass dieser kleine Essay leicht zu der Frage verleitet, wie frei wir in einem der demokratischsten Länder der Welt überhaupt noch sind? Wie steht es um unsere Freiheit in einer politischen Landschaft, in der die echten Alternativen zunehmend abhanden kommen, weil sich die großen Parteien immer ähnlicher werden? Wie erstrebenswert ist dieser vermeintlich postpolitische Zustand, der in bestimmten Wissenschaftlerkreisen sogar gefeiert wird, weil er das Politische überwunden zu haben glaubt, um ganz das Individuum und dessen Selbstverwirklichung ins Zentrum zu stellen? Zugleich scheint in unseren Gesellschaften ein wachsendes Desinteresse an der Politik um sich zu greifen. Gerade die in den letzten Jahren wiederholt vernehmbare Forderung nach „mehr Leidenschaften“4 in diesem Bereich scheint symptomatisch zu sein für den anämischen Zustand einer politischen Kultur, die mehr und mehr von den alles dominierenden Kräften des Kapitalismus und seiner Wachstumsideologie aufgesogen wird.

Und dies alles, während wir immer noch beobachten können, wie Völker erbittert um die Freiheit einer politischen Existenz im Sinne Arendts ringen und darin oft genug noch scheitern. Man denke an die überwältigende Aufbruchsstimmung und das revolutionäre Pathos des Arabischen Frühling, der inzwischen wohl als Neuauflage einer abgebrochenen oder deformierten Revolution gelten kann. Oder während wir tagtäglich verfolgen können, wie in vormals freien Ländern die Meinungs- und Pressefreiheit als Grundvoraussetzung des Politischen systematisch wieder eingeschränkt wird.

Hannah Arendts Thema scheint also auch heute noch „von beschämender Aktualität“ zu sein. Mit der vorliegenden Publikation 50 Jahre Mai 68 zu feiern würde deshalb den Blick auf die eigentlich brennenden Fragen nur verstellen. Vielleicht sollte man sogar dankbar sein, dass der Verlag genügend editorisches Feingefühl bewiesen hat, diese Entdeckung nicht auch noch im allfälligen 68er-Jubiläumstrubel zu verramschen.

Zu wünschen wäre, dass mit diesem Überraschungserfolg auch dessen eigentliche Quelle – Hannah Arendts Über die Revolution – wieder eine breitere Leserschaft findet, auch wenn ein solches Werk es schon qua Länge und mangels ‚Neuheit‘ niemals auf die Spiegel-Bestsellerliste geschafft hätte und auch wenn Hannah Arendt an Wirkung bekanntlich nicht interessiert war.


Buchcover Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein

 

Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein

dtv / 64 Seiten/ ISBN 978-3423146517

 

Buchcover Hannah Arendt: Über die Revolution

Hannah Arendt: Über die Revolution

Piper / 432 Seiten / ISBN 978-3492264778