Ivan Illich: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik (1975)
Die Konditionierung des Menschen in der Megamaschine ist wirksam genug, den Sklavenhalter in Menschengestalt überflüssig zu machen.
I.
Als „Mahner von Cuernavaca“ hat Marion Dönhoff ihn bezeichnet und „Prophet“ nennt ihn sein Biograph Todd Hartch sogar, wobei nicht ganz klar ist, ob er damit eher auf die visionäre Gabe der biblischen Propheten anspielt oder auf deren Zorn über die Unzulänglichkeiten der Gegenwart und die Sprachgewalt, mit der sie diese anklagen. Vermutlich trifft auf Ivan Illich beides zu. Gerade die religiöse Konnotation mag auf ersten Blick verwundern, denn Illichs Hauptwerk aus den 70er Jahren ist eine radikal säkulare Kritik der gesellschaftlichen Institutionen und ihrer Verfallenheit an den Mythos vom Fortschritt, hervorgegangen aus einer Fülle von Gesprächen, die Illich in seinem Centro intercultural de documentación in Cuernavaca nahe bei Mexiko Stadt mit den kritischsten Köpfen seiner Zeit geführt hatte. Illich schreckt hier vor keiner Autorität zurück im Ringen um menschliche Selbstbestimmung. Werke wie Die Entschulung der Gesellschaft, Energie und Gerechtigkeit oder Die Nemesis der Medizin haben ihn zu einem der interessantesten Wegbereiter der aktuellen wachstumskritischen Bewegungen gemacht. Mit Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik (1975), hat er denjenigen, deren Anliegen es ist, Gesellschaft anders zu denken, ein Werkzeug hinterlassen.
Im Kern von Illichs Botschaft steht die Kritik an einer Form von Wachstum, die die Menschen zu Opfern einer zunehmend alternativlos werdenden Wirklichkeit macht. All seinen Werken der 70er-Jahre ist die Erkenntnis gemein, dass ab einem bestimmten Punkt in der Geschichte des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts und seiner Institutionalisierung (das, was er als „zweite Wasserscheide“ bezeichnet) eine Grenze überschritten wurde, von der an der administrative und finanzielle Aufwand in keinem Verhältnis zum Ertrag mehr stand und der Fortschritt selbst sich in die faustische Dynamik der Zähmung der Geister verstrickte, die er rief. Je leistungsfähiger die Maschinen und Werkzeuge, umso mehr greifen nach Illich Expertentum und Monopolbildung um sich. Menschen, die nicht mehr selbst entscheiden dürfen, wer ihre Krankheiten behandelt und wie, die nicht das Recht haben, selbst zu bestimmen, wann und wo sie etwas lernen oder denen die Möglichkeit genommen wird, ihre Toten selbst zu bestatten, sieht Illich als entmündigt und zum Versorgungsfall degradiert. Man nimmt ihnen die Möglichkeit, sich um sich selbst und um andere zu kümmern, ihre Fähigkeiten zu entdecken, sie ganzheitlich einzusetzen und dabei etwas zu lernen. Stattdessen werden sie gezwungen, Dienstleistungen einzukaufen und das dafür notwendige Geld in standardisierten Berufen zu verdienen, die selten noch etwas mit Freude oder Berufung zu tun haben. Was dem modernen Menschen noch bleibt, ist ein resignatives Sich-Fügen in seine vorbestimmte Rolle als williger Konsument vorgefertigter Produkte, seien es industriell erzeugte Waren, curricular vorgeschriebene Bildungspakete oder ein selbstzweckhaft gewordener medizinischer Leistungsapparat.
Tatsächlich ist meine Illich-Lesebiografie das, was ich ganz im Sinn der Idee dieses Blogs als „Grabung“ bezeichnen würde, denn sie hat mich immer tiefer hineingeführt in das Faszinosum Illich. Fasziniert war ich in Selbstbegrenzung zum einen von der Treffsicherheit der schonungslosen Analyse der Mechanismen, die unsere westlichen Gesellschaften zu dem gemacht haben, was sie heute sind, zum anderen von der Überzeugungskraft, mit der Illich Selbstverständlichkeiten in Frage stellt, die uns im 21. Jahrhundert längst schon alternativlos erscheinen, weil wir sie als eben die Errungenschaften von Wohlstand und Wachstum feiern, als die sie uns verkauft werden. Illich kann uns zu der unangenehmen Erkenntnis führen, dass wir schon gar keine Fantasien mehr darüber entwickeln, ob es auch anders ginge, ob nicht auch andere Formen des Zusammenlebens und Arbeitens denkbar wären, Formen, die mehr Raum lassen für die „Kraft und Phantasie, die in jedem von uns steckt“:
Unsere Visionen des Möglichen und Machbaren sind so stark von industriellen Erwartungen geprägt, dass uns jegliche Alternative zur weiteren Massenproduktion wie eine Rückkehr zur Unterdrückung vergangener Zeiten oder wie ein utopisches Design für edle Wilde erscheinen muss. Um neue Wege gehen zu können, müssen wir uns jedoch nur deutlich machen, dass wissenschaftliche Entdeckungen auf mindestens zwei gegensätzliche Weisen genutzt werden können. Die erste führt zur Spezialisierung von Funktionen, zur Werteinstitutionalisierung und zur Machtzentralisierung und lässt die Menschen zu Helfershelfern von Bürokraten oder Maschinen werden. Die zweite gewährt dem einzelnen mehr persönliche Kompetenz, Kontrolle und Initiative, die allein durch den Anspruch anderer auf das gleiche Maß an Freiheit eine Einschränkung erfahren können.
Illich ist also keineswegs technikfeindlich oder reaktionär eingestellt. Er sieht nur die Notwendigkeit eines anderen Einsatzes der Werkzeuge, die Wissenschaft und Technik bereitstellen, und zwar mit Blick auf das Wohlergehen einer Mehrheit der Menschen und ihrer Umwelt auf diesem Planeten. Illichs Vision ist ein auf ein wirklich menschliches Maß reduzierter Umgang mit dem „Möglichen und Machbaren“, der ungeahnte Freiheiten und Entfaltungsmöglichkeiten für jeden einzelnen schaffen könnte. Sein Werk hat insofern prophetische Qualität, als es die Verheißung eines besseren Lebens für mehr Menschen birgt, wenn wir es nur schaffen, dem ‚Fortschritt‘ Grenzen zu setzen.
II.
Eine präzise Ausarbeitung von Handlungsanweisungen sucht man bei Illich allerdings vergeblich. Er liefert uns jedoch zwei Begriffe als heuristisches Instrumentarium für eine ergebnisoffene Transformation der Gesellschaft. Diese stecken bereits im englischen Originaltitel: Tools for conviviality. Es sind zum einen die „Werkzeuge“ zum anderen die „Konvivialität“.
In der modernen Begriffsverwendung bedeutet „konvivial“ schlicht „gesellig“ (von lat. cum+vivere: Zusammenleben). Illich grenzt seinen terminus technicus aber klar ab von einer damit möglicherweise assoziierten „trunkenen Fröhlichkeit“ und betont stattdessen die Nähe zur griechischen „eutrapelia“, der „strengen Einfachheit“, die für den Begriff im Altenglischen noch prägend war. Konvivial ist für ihn eine Gesellschaft, in der Werkzeuge vernünftigen Wachstumsbeschränkungen unterliegen:
Ich wähle den Begriff „Konvivialität“, um das Gegenteil der industriellen Produktivität bezeichnen zu können. Er soll für den autonomen und schöpferischen zwischenmenschlichen Umgang und den Umgang von Menschen mit ihrer Umwelt als Gegensatz zu den konditionierten Reaktionen von Menschen auf Anforderungen durch andere und Anforderungen durch eine künstliche Umwelt stehen. Für mich ist Konvivialität individuelle Freiheit, die sich in persönlicher Interdependenz verwirklicht, und sie ist als solche ein immanenter ethischer Wert.
Es handelt sich also um kein geronnenes Denksystem, sondern „konvivial“ ist vielmehr ein bewegliches Adjektiv, das vielfältig anschließbar ist und dadurch offen wird für die Pluralität und das Partikulare. Die Frage, die wir uns also immer wieder stellen müssen, ist: Sind unsere Werkzeuge wirklich konvivial? Die zweite, dem noch vorausgehende Frage ist die nach den „Werkzeugen“ selbst. Was ist darunter genau zu verstehen? Illich geht von einem erweiterten Werkzeugbegriff aus:
Ich meine damit nicht nur einfache Gebrauchsgegenstände wie Bohrer, Töpfe, Spritzen, Besen, Baumaterialien, Motoren und große Maschinen wie Autos oder Kraftwerke; ich beziehe produktive Institutionen wie Fabriken mit ein, die konkrete Waren wie Cornflakes oder elektrischen Strom, aber auch produktive Systeme, die immaterielle Güter wie „Bildung“, „Gesundheit“, „Wissen“ oder „Entscheidungen“ produzieren.
„Werkzeuge“ sind bei Illich alles vom Menschen Ersonnene, das sich von anderen Dingen, wie z.B. Grundnahrungsmitteln unterscheidet, die per se nicht der Rationalisierung unterworfen sind.1 Dieses „ausgeklügelte Instrumentarium“ gilt es also zu zähmen, seine Zurichtung als bloßes Mittel zum Zweck unbegrenzten Wachstums aufzuheben und es in einen vielfach ausgewogenen konvivialen Kontext einzubetten.
Illich benennt verschiedene operative Maßnahmen, die dazu beitragen können, eine konviviale Gesellschaft aufzubauen. Dazu gehört zuallererst die Entprofessionalisierung breiter Lebens- und Arbeitsbereiche, die Raum schaffen kann für Kreativität und die Entfaltung von Potentialen jenseits von Abschlüssen, Diplomen und Zertifikaten. Mit Blick auf die gleichmäßige Versorgung mit Arbeit für alle sieht er außerdem eine Reduktion der Arbeitszeit geboten. Im Wissen darum, wie sehr Sprache Wirklichkeit formt, rät er uns, unsere vom Wachstumsfetisch durchdrungenen Sprachgewohnheiten zu überdenken. Er regt an, die Wissenschaft zu entmythologisieren und uns von dem Gedanken zu verabschieden, dass mehr Wissen immer auch besseres Wissen bedeutet, denn dieses Prinzip bildet die Grundlage dafür, dass der Gesellschaft mit wachsendem Tempo Innovationen aufgezwungen werden, die letztlich marktgesteuert sind. Stattdessen empfiehlt er die Etablierung einer „Gegenforschung“, der zwei Aufgabenbereiche zufallen sollen:
Erstens muss sie Richtlinien aufstellen, mit deren Hilfe schon die ersten Anzeichen einer mörderischen Eigendynamik eines Werkzeugs auszumachen sind; zweitens muss sie Werkzeuge und Werkzeugsysteme konzipieren, die die Ausgewogenheit des Lebens optimieren und damit allen die größtmögliche Freiheit bieten können.
Illich liefert durchaus konkrete Beispiele für solch konviviale Werkzeuge. Es finden sich darunter Kulturleistungen wie das Alphabet oder die Druckerpresse, die einer breiten Masse überhaupt erst das Lesen von Büchern ermöglicht haben, aber auch das Telefon in seinem elementarsten Gebrauchszweck, Menschen über große Entfernungen hinweg kommunizieren zu lassen. Kondome sind für ihn ebenso konviviale Werkzeuge wie das formale rechtliche Verfahren, denn beide können Menschen dabei helfen, sich aus Zwängen und Abhängigkeiten zu befreien. Illich liefert Beispiele, ohne allzu konkret zu werden, und das nicht unbegründet, denn was jeweils konvivial ist und was nicht, werden Gesellschaften an den ihnen verfügbaren Werkzeugen immer aushandeln müssen. Über die konvivialen Aspekte eines Smartphones wird heute anders diskutiert werden als über das Telefon in den 70er Jahren. Illich trägt der Komplexität dieses Unterfangens Rechnung, wenn er die Konzeption konvivialer Werkzeuge oder „Werkzeugsysteme“ sogar einem spezifischen Forschungszweig übertragen will. Entscheidend wäre dann natürlich, dass die Träger dieser Forschung gerade nicht eine Experten-Elite sind.
Auf eine ähnliche inhaltliche Offenheit stoßen wir, wenn wir nach den Akteuren des Wandels fragen. Wer soll diese gesellschaftlichen Veränderungen herbeiführen? Es ist der immanenten Logik von Illichs Denken und seiner kritischen Einstellung Institutionen gegenüber geschuldet, dass dafür keine bereits existente Gruppierung in Frage kommt, denn von den Nationalstaaten über die etablierten Parteien bis hin zu den Gewerkschaften und dem Verbraucherschutz sieht er alle ausnahmslos dem herrschenden System verpflichtet. Ablehnend steht er selbst einer programmatischen, gut durchorganisierten neuen Elite von Wachstumsgegnern gegenüber, von der zu befürchten sei, dass sie sich nur mit einer Reduktion des industriellen Outputs zufrieden gibt, ohne die Werkzeuge in ihrer Tiefenstruktur zu verändern (Wer wäre hier nicht versucht, an das Schicksal der Grünen zu denken, die längst schon vom System aufgesogen wurden).
III.
Vieles an Illichs Kritik der gesellschaftlichen Institutionen erinnert an Michel Foucaults nur wenige Jahre früher entstandene Analysen der Dispositive der Macht. Illich kannte und schätzte Foucault, distanzierte sich allerdings von dem, was man als „Postmoderne“ bezeichnet, denn er empfand sie aus der christlichen Sicht, die seinem Denken bis in die säkularsten Windungen hinein zu Grunde liegt, als „unglaublich entkörpernd“: „Pass auf, wenn du mir genau zuhörst, wirst du, wenn du ein Postmoderner bist, zornig werden“, warnt er David Cayley in einem seiner späten Gespräche. Was Illichs Denken von der oft nur als de(kon)struktiv wahrgenommenen Postmoderne unterscheidet, ist ein Prinzip Hoffnung. Man kann das christlich deuten, man kann es aber auch – wie Illich in Die Entschulung der Gesellschaft – mythologisch mit der Idee des „epimetheischen“ an Stelle des „prometheischen Menschen“ verknüpfen. Ersterer ist es, den sein Schreiben als Träger des Wandels umkreist wie eine Leerstelle, die es noch zu füllen gilt.
In den 40 Jahren seit Veröffentlichung von Illichs Selbstbegrenzung hat sich die Situation weltweit in allen von ihm kritisierten Bereichen massiv zugespitzt: Umweltzerstörung, wachsende soziale Ungleichheiten, Abhängigkeit des Menschen von der Technik und eine zwanghafte Verflechtung der gesellschaftlichen Institutionen mit Wirtschaft und Wachstum. Zugleich werden sich aber auch immer mehr Menschen dessen bewusst, in welch fast ausweglose Situation wir uns manövriert haben. Wirtschafts- und Umweltkrisen mobilisieren nicht nur die Jugend, auch viele Initiativen und Gruppierungen suchen nach alternativen Wegen. Ihnen allen gemeinsam ist das Streben nach einer Neudefinition von Wohlstand und Reichtum, nach einer neuen Kunst, miteinander zu leben. Dass Illichs Ideen hier längst schon auf fruchtbaren Boden gefallen sind und heute intensiv an ihnen weitergedacht und geforscht wird, zeigt eine Bewegung, die ihren Ursprung 2013 in Frankreich nahm. Dort eröffneten etwa 40 französischsprachige Wissenschaftler*innen und Intellektuelle mit ihrem Manifeste Convivialiste – Déclaration d’interdépendance einen Weg zu einer gesellschaftlichen Debatte in Frankreich. Die zahlreichen Übersetzungen des Manifests haben die Diskussion längst auch in andere Länder getragen. In Deutschland hat sich etwa Andrea Vetter, Ethnologin an der Humboldt Universität Berlin intensiv mit Illichs Konvivialitätsbegriff und seiner Anwendung im Bereich der Technik befasst. Sie hat einen Kriterienkatalog („Kompass der Konvivialen Technik“, KKT) entwickelt, anhand dessen Technologien nicht nur unter Effizienzaspekten gesehen, sondern kritisch auf ihre Rolle im Spannungsfeld zwischen Mensch und Umwelt hin geprüft werden können.2 Die inzwischen international geführte Diskussion scheint schon zu einer Schärfung des Profils der Konvivialismus-Bewegung beigetragen zu haben: Im Februar 2020 wurde das Second manifeste convivialiste veröffentlicht.
Vielleicht werden die „Konvivialisten“ ja zu denen gehören, die uns in der multiplen bevorstehenden Krise, die Illich als unausweichlich sieht, einmal „deutlich machen können, dass der Zusammenbruch der vorherrschenden industriellen Illusionen Voraussetzung ist für die Einführung einer effizienten und konvivialen Produktionsweise“. Sie werden der Gesellschaft dann das Prinzip der Selbstbegrenzung nahebringen und sich darauf einrichten müssen, „in allgemeinverständlichen Worten darzulegen, […] dass verschiedene Kreise Opfer bringen müssen, um das zu bekommen, was sie wollen – oder um zumindest von etwas befreit zu werden, das inzwischen unerträglich geworden ist.“ Und sie werden damit sicher nicht allein sein, denn der Chor der Anhänger einer Postwachstumsgesellschaft ist längst schon vielstimmig.
DIESER BEITRAG IST TEIL DES GRABUNGSFELDS SELBSTBEGRENZUNG
Ivan Illich: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik
C.H. Beck / 175 Seiten / ISBN: 978-3406669064
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