Archäologien des Lesens

Schlagwort: Zweiter Weltkrieg

Dichterdämmerung

Hans Pleschinski: Wiesenstein

Schon in Königsallee ist es Hans Pleschinski herrlich gelungen, den großen Thomas Mann in einer besonders absurden biographischen Situation zu erfassen und darin ein nur allzu menschliches Portrait von ihm, ja vom gesamten Mann-Clan zu zeichnen. In seinem neuesten Roman Wiesenstein nimmt er sich den Titan des deutschen Naturalismus vor.

Es ist Februar 1945. Zusammen mit seiner Frau Margarete, dem selbsternannten Privatmasseur Metzkow und der Sekretärin Annie Pollack ist Gerhart Hauptmann auf der Flucht aus dem von den Aliierten in Schutt und Asche gelegten Dresden. Nachdem das Ehepaar dort einige Wochen Kuraufenthalt im Sanatorium verbracht hatte, macht es sich nun per Bahn überstürzt auf den Heimweg ins Riesengebirge. Allen Warnungen zum Trotz  – der Flüchtlingsstrom kommt ihnen bereits entgegen und es verkehren nur noch wenige Züge nach Osten – beansprucht der gesundheitlich angeschlagene 82-Jährige, die ihm verbleibenden Tage auf seinem vornehmen Landsitz Wiesenstein im hügeligen Hinterland von Agnetendorf (heute Jagniątków) zu verbringen. 16 Monate wird er dort noch leben. Dann müssen auch die letzten Hausbewohner den Wiesenstein räumen, denn Schlesien ist längst schon in polnisch-russischer Hand.

Gefängnisfenster Paris

Nur unsere Gedanken sind voll in unserer Macht

Agnès Humbert: Notre guerre. Journal de Résistance 1940-1945

Wenn in Deutschland vom antifaschistischen Widerstand der französischen Résistance während des zweiten Weltkriegs die Rede ist, dann verbinden wir damit vor allem den Namen eines Mannes, dessen grandiose posthume Inszenierung sich ins historische Gedächtnis nicht nur Frankreichs eingebrannt hat: 1964 wurde Jean Moulins Asche mit großer Geste ins Pantheon, den heiligen Schrein der nationalen französischen Erinnerungskultur überführt. Charles de Gaulle, der Moulin 1941 von London aus mit der Mission betraut hatte, die zersplitterten Widerstandsgruppen auf dem Festland zu einen, war zu diesem Zeitpunkt schon fünf Jahre Präsident und Kulturminister André Malraux hielt jene Rede, die in düsteren Farben den Mythos des edlen Résistancehelden stellvertretend für alle begründen sollte, die im nationalen Widerstand ihr Leben gelassen hatten:

Résistance Plakate

„Die Wahrheit über die Résistance“

Der amerikanische Historiker Robert Paxton ist einer der großen Kenner der französischen Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Er hat sich intensiv vor allem mit der französischen Kollaboration in den Jahren 1940-1945 auseinandergesetzt. Mit La France sous Vichy, der Übersetzung von Vichy France: Old Guard and New Order, leitete Paxton 1973 eine wahre Revolution in der französischen Geschichtsforschung ein, indem er die damals gesellschaftlich weithin akzeptierte Erzählung widerlegte, die Vichy-Regierung habe unter Marschall Pétain ein „doppeltes Spiel“ gespielt, um größeren Schaden vom Volk abzuwenden, heimlich mit den Briten und Amerikanern kooperiert und insgeheim die Résistance gefördert, so gut es hinter dem Rücken der deutschen Besatzer eben ging. Paxton erbrachte dagegen den Nachweis, dass Vichy die deutschen Anordnungen oft sogar vorauseilend erfüllte, sich mit dem engagiert betriebenen Projekt einer neuen konservativen Gesellschaftsordnung dem Naziregime bewusst gleichschaltete und nicht zuletzt auch eine aktive Rolle bei der Deportation von Juden spielte. Paxtons Thesen waren in Frankreich Gegenstand heftiger Kontroversen, da sie an die Fundamente des nationalen Selbstverständnisses rührten und alte Wunden wieder aufrissen. Und doch leistete er mit seinem Buch einen wichtigen, wenn auch unbequemen Beitrag zur Auseinandersetzung Frankreichs mit seinen années noires. Mittlerweile gilt La France sous Vichy  auch dort als Klassiker der Geschichtsschreibung. Und inzwischen hat auch längst schon eine neue Generation von Historikern das Thema inner- wie außerhalb Frankreichs aufgegriffen und weiter vertieft.

Komödien- und Tragödienmaske vor schwarzem Hintergrund

Hermann Kesten: Zwei Bergungsversuche (II)

Hermann Kesten: Die fremden Götter (1949/2018)

Was ist das für eine Welt in Kestens Werk, zu der Volker Weidermann heute keinen Zugang mehr findet? Den Vertretern der Neuen Sachlichkeit, denen sein Schaffen während der Zeit der Weimarer Republik gerne zugeordnet wird, ging es vor allem darum, eine Gegenreaktion zum Pathos des Expressionismus zu formulieren, der als künstlerischer Träger der Kriegsbegeisterung vor 1914 mitverantwortlich gesehen wurde für das Desaster des ersten Weltkriegs. Es ging ihnen um eine illusionslos-nüchterne Darstellung der Wirklichkeit, vor allem der der kleinen Leute, wovon sie sich auch politische Wirksamkeit erhofften. Selbst für Kestens Frühwerk erscheint seinem Biographen Albert Debrunner diese Zuordnung allerdings nicht ganz so eindeutig und in seiner Lyrik stößt er durchaus noch auf Restbestände aus Romantik und Expressionismus. Was Kestens Romane und Erzählungen mit der letztlich gar nicht so „sachlichen“ Kunst seiner Zeit verbindet, ist uns auch aus Gemälden von George Grosz oder Otto Dix vertraut:

Verbrannte Buchseiten

Hermann Kesten: Zwei Bergungsversuche (I)

Albert Debrunner: „Zu Hause im 20. Jahrhundert“ Hermann Kesten (2017)

Wenn es nach Volker Weidermann ginge, bräuchten wir uns mit Hermann Kesten gar nicht erst zu befassen. In seinem 2008 veröffentlichten Buch der verbrannten Bücher, einer vollständigen Übersicht über die 131 Autoren, deren Werke im Mai 1933 den nationalsozialistischen Bücherverbrennungen zum Opfer gefallenen waren, schreibt er:

Seine Romane – und er hat insgesamt vierzehn geschrieben – taugen nicht viel. Wenn wir von Hermann Kesten nur die Romane, die Bühnenstücke, die Biographien, die Gedichte und die Novellen hätten – wir hätten ihn lange schon vergessen. Es waren Bücher für ihre Zeit, heute liest man darin wie in einer fremden Welt.

Nun war ja Weidermanns Anliegen eigentlich, die Autoren, für die diese Verbrennung fast ein Vergessen für immer bedeutet hätte, wieder in Erinnerung zu rufen. Man fragt sich also, warum er manche unter ihnen genauso schnell wieder abschießt, wie er sie dem Vergessen entreißt, und das auf noch nicht einmal zwei Seiten. Bei allem Respekt vor Weidermanns Anliegen und ganz unabhängig von der tatsächlichen Qualität der indizierten Autoren: Eine Beschränkung aufs Biografische hätte seinem Buch sicher gut getan.

Auch der Schweizer Nimbus-Verlag hat sich im Bereich der Belletristik der Wiederentdeckung vergessener oder verkannter Künstler verschrieben. In seiner Reihe „unbegrenzt haltbar“ unternimmt er jetzt mit der Neuauflage des Romans Die fremden Götter (1949) (Teil II dieses Beitrags) einen bemerkenswerten Hermann-Kesten-Bergungsversuch und knüpft damit an Albert M. Debrunners lesenswerte erste Kesten-Biografie Zu Hause im 20. Jahrhundert vom April 2017 an.

40er Jahre Frau im Auto mit Zigarillo

Flaschenpost aus 1942

Irène Némirovsky : Suite française (2004)

Selten dürfte es in der Literaturgeschichte vorgekommen sein, dass eine Schriftstellerin gleich zweimal über Nacht berühmt wurde: in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts und siebzig Jahre später noch einmal posthum: 2004 taucht Irène Némirovskys unveröffentlichtes Romanfragment Suite française von 1942 auf wie Flaschenpost aus einer anderen Zeit und konfrontiert Frankreich mit einem der dunkelsten Kapitel seiner eigenen Vergangenheit.

Französische Flagge in Stein mit großem Riss

Frankreich gegen Frankreich

Wolfgang Matz: Frankreich gegen Frankreich. Die Schriftsteller zwischen Literatur und Ideologie (2017)

Als sich Anfang 2013 die Sympathisanten der „Ehe für alle“ auf den Straßen von Paris mit den mobilisierten Massen der konservativen „Demo für alle“ konfrontiert sahen und diese Begegnungen sogar in Handgreiflichkeiten ausarteten, wurde wieder einmal sichtbar, wie tief die ideologischen Gräben sind, die die französische Gesellschaft spalten: Hier der Geist der Freiheit in der Tradition von 1789, dort die alteingesessene nationale, katholische Rechte. Es war ein fernes, aber nicht minder spürbares Nachbeben dessen, was in der französischen Revolution bereits Ende des 18. Jahrhunderts zum Ausbruch gekommen war und das Land bis heute prägt.

Warum es in den letzten 200 Jahren nahezu unmöglich war, diese beiden Pole zu versöhnen, erklärt Wolfgang Matz in seinem hervorragenden Essay. Vom ausgehenden 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, also über zwei Weltkriege und deren Vorläufe hinweg, spürt er dem gesellschaftlichen Klima in Frankreich im Spiegel seiner intellektuellen Debatten nach. Dabei setzt er sich mit Texten und teils auch mit Schriftstellern auseinander, die in Deutschland nur wenig bekannt sind.

Soldaten und Zivilbevölkerung vor Pariser Café, 1941

„Drôle de guerre“

Der folgende Beitrag ist Teil der auf Bouvard & Pécuchet neu eingerichteten Rubrik „Grabungsfelder„, in der ich mehrere Lektüren in einen breiteren thematischen Zusammenhang  stelle.

Die „Drôle de guerre“ und ihre Folgen

Frankreich zwischen Anpassung und Widerstand (1939-45)

Es ist nicht selbstverständlich, dass der deutsch-französische Freundschaftsvertrag schon seit 1963 Bestand hat, sondern Ergebnis des erklärten Willens beider Länder, nach Jahrhunderten kriegerischer Auseinandersetzungen zu einem gedeihlichen nachbarschaftlichen Verhältnis zu finden, das vorausblicken lässt. Heute hofft man auf die beiden Länder im Zentrum Europas als Motor des Einigungsprozesses. Gerade auch politisch scheint angesichts der aktuellen, oft länderübergreifenden Krisen eine stabile Mitte unverzichtbar: steigende Arbeitslosigkeit, Flüchtlinge, Terror und vielerorts ein gefährlicher gesellschaftlicher Rechtsruck sind akute Probleme, die gemeinsam gelöst werden wollen.

Appelle an nachbarschaftliches Einvernehmen erscheinen umso zwingender, wenn man zurückblickt auf die gemeinsame Geschichte: Zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert überstürzten sich die Konflikte zwischen Deutschland und Frankreich: In nicht weniger als sechs Kriegen fanden mehrere Millionen Angehörige beider Nationen den Tod. Der letzte dieser Kriege kam nicht überraschend und doch wurde er von französischer Seite unterschätzt. Das was als „drôle de guerre“ („komischer Krieg“) zunächst scheinbar harmlos begann, wuchs sich zu einem neuerlichen Weltkrieg aus. Und vielleicht ist es eine böse Ironie der Geschichte, dass führende gesellschaftliche Kreise Frankreichs, des Ursprungslands der Menschen- und Bürgerrechte, sich im Verlauf dieses Krieges von den Interessen Hitlers und der Nationalsozialisten nicht ganz unfreiwillig vereinnahmen ließen.

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Thomas-Mann-Haus, Poschingerstr.

Dem Zauberer aufs Dach gestiegen

2006 wurde das neue Thomas-Mann-Haus im Münchner Herzogpark eingeweiht. Ein Nachruf.

„Wir haben einen Blick auf die Poschi geworfen, wo viele Schutthaufen, viel Material herumliegt, wegen starker innerlicher Veränderung“, schrieb Hedwig Pringsheim 1937 an ihre Tochter Katja, die mit ihrer Familie nach einer überstürzten Flucht vor den Nationalsozialisten schon seit vier Jahren im Schweizer Exil lebte. Und nicht nur Katia tat sich zeit ihres Lebens schwer mit dieser „Münchner Barbarei“ – mit Enteignung und Ausbürgerung durch ein Regime, das ihrem Mann das kritische Denken verbieten wollte und den Glanz der jüdischstämmigen Familie Pringsheim, einem der gesellschaftlichen Zentren im München der ersten Jahrhunderthälfte, vernichtete.

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Aux origines de la décroissance ist ein interessantes Editionsprojekt aus dem Umfeld von La Décroissance, einer der konsequentesten mir bekannten wachstumskritischen Zeitschriften, die nun schon seit 2004 standhaft durchhält. Drei französischsprachige Verlage, L’écosociété (Québec), L’échappée und Le pas de côté haben sich hier zusammengetan und ein erfolgreiches Dossier der Zeitung zu einer Anthologie ausgeweitet. Vorgestellt werden 50 Pioniere (darunter auch ein paar Pionierinnen) des wachstumskritischen Denkens – von Edward Abbey und Hannah Arendt über Albert Camus und Ivan Illich bis hin zu Henry David Thoreau, Leo Tolstoi und Simone Weil. Den Beiträgen vorangestellt ist jeweils ein markantes Portrait in Radierung, gefolgt von einer Seite mit ausgewählten Zitaten und wichtigen bibliographischen Hinweisen. Den Kern bildet jeweils eine etwa vierseitige pointierte Zusammenfassung von Leben und Bedeutung der vorgestellten Person für das Postwachstumsdenken. Wunderbare Appetithäppchen zum Einstieg ins Thema!

Der Soziologe Stefan Lessenich nähert sich in Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis (Hanser, 2016) dem Thema Postwachstum aus der kapitalismus- und globalisierungskritischen Perspektive sowie aus der Sicht der Nord-Süd-Kritik. Packend geschrieben und zugleich schwer verdaulich ist seine Diagnose der kapitalistischen Zentren der Welt als imperialistische Ausbeutungsgesellschaften, deren Wohlstand, Freiheiten und Lebensstil seit Jahrhunderten durch Auslagerung, durch eine Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten an die Länder des globalen Südens erkauft worden sei. Stabilisiert werde dieses Moment struktureller Gewalt durch das, was er als „Externalisierungshabitus“ bezeichnet: eine systematische Strategie des Ausblendens, des Nicht-wissen-Wollens und sich (notfalls gewaltsamen) Abgrenzens der privilegierten Gesellschaften, in der Lessenich die Prinzipien der Aufklärung selbst pervertiert sieht. Zugleich warnt er eindringlich vor den Folgen des weltgeschichtlichen Bumerang-Effekts, der den globalen Norden schon jetzt mit den Folgewirkungen seines Handelns konfrontiert.

Obwohl in vielen Belangen sicher treffend und aufrüttelnd, wird dieses Buch am schwersten wohl für all diejenigen verdaulich sein, die sich innerhalb der kapitalistischen Zentren selbst an den Rand gedrängt sehen.

Einen fundierten Einblick in das im deutschen Sprachraum bislang noch wenig systematisierte Feld von Degrowth/Postwachstum präsentieren Matthias Schmelzer und Andrea Vetter. Sie forschen in den Bereichen Wirtschaftsgeschichte und Kulturanthropologie und engagieren sich beide im Rahmen des Konzeptwerks neue Ökonomie aktiv zu Postwachstumsthemen. In ihrer Einführung definieren sie ihren Gegenstand sensibel im Spiegel verschiedener europäischer Traditionsstränge (Postwachstum/Degrowth/Décroissance). Sie zeigen ferner auf, wie die unterschiedlichen wachstumskritischen Perspektiven (ökologisch, sozial-ökonomisch, kulturell, kapitalismuskritisch, feministisch, industrialismuskritisch, Süd-Nord) bei aller vordergründigen Disparatheit sinnvoll zusammenlaufen und sich wechselseitig ergänzen können. Die Frage nach den Trägern des Wandels und den notwendigen Transformationsstrategien wird ebenso thematisch wie auch eine abschließende kritische Selbstreflexion, die zentrale Schwachstellen des Konzepts offenlegt und dadurch den Boden bereitet für eine Schärfung des Profils dieses noch jungen Forschungszweigs. Viele der hier im Grabungsfeld „Selbstbegrenzung“ aufgeführten Titel sind mir in dieser hervorragenden Einführung wieder begegnet und lassen sich dadurch in einen übergreifenden Kontext einordnen. Bei der Lektüre dieser Junius-Einführung (2019) wird klar, dass Postwachstum mehr ist als ein Nischenthema für ‚ökisch‘ angehauchte Weltverbesserer.