Bouvard & Pécuchet

Archäologien des Lesens

„Die Wahrheit über die Résistance“

Der amerikanische Historiker Robert Paxton ist einer der großen Kenner der französischen Geschichte des Zweiten Weltkriegs. Er hat sich intensiv vor allem mit der französischen Kollaboration in den Jahren 1940-1945 auseinandergesetzt. Mit La France sous Vichy, der Übersetzung von Vichy France: Old Guard and New Order, leitete Paxton 1973 eine wahre Revolution in der französischen Geschichtsforschung ein, indem er die damals gesellschaftlich weithin akzeptierte Erzählung widerlegte, die Vichy-Regierung habe unter Marschall Pétain ein „doppeltes Spiel“ gespielt, um größeren Schaden vom Volk abzuwenden, heimlich mit den Briten und Amerikanern kooperiert und insgeheim die Résistance gefördert, so gut es hinter dem Rücken der deutschen Besatzer eben ging. Paxton erbrachte dagegen den Nachweis, dass Vichy die deutschen Anordnungen oft sogar vorauseilend erfüllte, sich mit dem engagiert betriebenen Projekt einer neuen konservativen Gesellschaftsordnung dem Naziregime bewusst gleichschaltete und nicht zuletzt auch eine aktive Rolle bei der Deportation von Juden spielte. Paxtons Thesen waren in Frankreich Gegenstand heftiger Kontroversen, da sie an die Fundamente des nationalen Selbstverständnisses rührten und alte Wunden wieder aufrissen. Und doch leistete er mit seinem Buch einen wichtigen, wenn auch unbequemen Beitrag zur Auseinandersetzung Frankreichs mit seinen années noires. Mittlerweile gilt La France sous Vichy  auch dort als Klassiker der Geschichtsschreibung. Und inzwischen hat auch längst schon eine neue Generation von Historikern das Thema inner- wie außerhalb Frankreichs aufgegriffen und weiter vertieft.

In der New York Review of Books veröffentlicht der inzwischen emeritierte Paxton seit vielen Jahren Rezensionen zu Neuerscheinungen aus seinem Fachgebiet. In der Februar-Ausgabe 2016 besprach er zwei neuere Bücher zum Thema des französischen Widerstands: Fighters in the shadows: A New History of the French Resistance (2015), das Werk des englischen Historikers Robert Gildea, und Olivier Wieviorkas Histoire de la Résistance (2013).

Wie viele der NYRB-Rezensionen bringt auch Paxtons Artikel „The truth about the Resistance“ den aktuellen Forschungsstand prägnant auf den Punkt und flicht dabei in zwangloser Weise besondere Akzentsetzungen und methodische Schwerpunkte der zu besprechenden Bücher ein, ohne ihnen allzu sehr im Detail anzuhaften. Ohne den Spiegelfechtereien des sich oft selbst atomisierenden Wissenschaftsbetriebs zu verfallen, vermittelt diese Rezensionsform grundlegendes Wissen, ohne das Spezifische aus dem Blick zu verlieren und legt im vorliegenden Fall auch nahe, wie weit der wissenschaftliche Konsens durchaus schon reicht.

Der Titel von Paxtons Beitrag „The truth about the Resistance“ ist aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive von Relevanz, zumal Paxton selbst mit seiner frühen (Gering-)Schätzung von Zahl und Bedeutung der Résistance in den 70er Jahren heftigen Widerspruch unter französischen Historikern provoziert hatte. Beiden Autoren bescheinigt er nun, „at last authoritative general surveys“ zum Thema zu liefern. Zum anderen rührt diese Wahrheitssuche natürlich immer noch an den wunden Punkt der nationalen französischen Legendenbildung der Nachkriegszeit, welche Jahrzehnte lang von der Tendenz bestimmt war, die Résistance nicht nur moralisch, sondern auch in ihrer faktischen Bedeutung für den Kriegsverlauf zu überhöhen. Die wissenschaftliche Aufklärung dieser Thematik in ihrer ganzen Komplexität und Unübersichtlichkeit, wie sie Untergrundaktivitäten grundsätzlich eignet, leistet also nicht zuletzt einen wichtigen Beitrag zum Verständnis nationaler Mythenbildung, vor der auch die Geschichtswissenschaften selbst nie gefeit waren.

Ich fasse im folgenden Paxtons/Gildeas/Wieviorkas Ergebnisse zusammen:

Wogegen richtete sich die französische Résistance?

Schon diese Frage entzieht sich einer einheitlichen Antwort. Die Kritik des ins Londoner Exil geflohenen und von dort über die BBC zum nationalen Widerstand aufrufenden General De Gaulle richtete sich insbesondere gegen den mit Hitler ausgehandelten Waffenstillstand und das dafür verantwortliche nationalkonservative Vichy-Regime unter Marschall Pétain mit Sitz in der freien Zone. Autonome Gruppen in Frankreich hingegen hatten – bei relativer Regimetreue – anfangs oft nur die deutschen Besatzer im Visier, wandten sich  mit Verschärfung der Kriegssituation um 1942/43 dann aber teilweise von Pétain und dessen immer deutlicher zu Tage tretenden Autoritarismus ab und wechselten die Seiten. Prominentestes Beispiel für diese Gruppe ist der spätere sozialistische Präsident François Mittérand. Andere wiederum – die sog „Vichysto-résistants“ – blieben Pétain durchgehend treu und betrieben aus dem Regime heraus dennoch verdeckt antideutsche Aktionen.

Welches Ziel hatte die Résistance?

De Gaulle ging es vor allem darum, von England aus eine schlagkräftige geheime Untergrundarmee zu formieren und dadurch militärisch ein Terrain zu bereiten für die Landung der Alliierten. Zum anderen wollte er den Streitkräften des Widerstands und sich selbst eine Machtbasis im künftigen befreiten Frankreich sichern, die stark genug sein sollte, um nationale Handlungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und einem amerikanischen oder englischen Protektorat zuvor zu kommen.

Die französischen Kommunisten setzten stattdessen auf unmittelbare Aktionen und einen nationalen Aufstand der Arbeiterklasse zum Zeitpunkt der Befreiung. Seit ihrem frühen Verbot 1939 konnte die kommunistische Partei Frankreichs bereits auf Erfahrungen im Untergrund zurückgreifen und übte deshalb auch eine starke Anziehungskraft auf Gruppierungen aus, die zwar die Ziele des Kommunismus nicht teilten, sich aber strategisch mit ihm verbanden und dadurch teils auch dessen Rolle im Widerstand bedeutender erscheinen ließen, als sie tatsächlich war.

Der kommunistische Widerstand wurde zunächst durch den Hitler-Stalin-Pakt ausgebremst, da die kommunistische Partei zu Kriegsbeginn als de facto Verbündeter Deutschlands galt. Im Duell der Kapitalisten Deutschland und England, deren Ziele ihr gleichermaßen fernstanden, trat sie zunächst aktiv für den Frieden ein. Das machte sie wiederum zur Zielscheibe rechter Vichy-Politik, die die Kommunisten sogar noch massiver verfolgte als es die Nazis taten.

Nach Einmarsch Hitlers in die Sowjetunion setzte der bewaffnete kommunistische Widerstand dafür umso massiver ein. Er begann am 21. August 1941 mit einem ersten Attentat auf die Besatzer: Pierre Georges ermordete in der Pariser Metrostation Barbès-Rochechouart den deutschen Offiziersanwärter Alfons Moser. Es folgten weitere Anschläge kommunistischer Aktivisten gegen deutsche Offiziere in Nantes und Bordeaux, allerdings um einen hohen Preis: Die Ermordungen deutscher Soldaten hatten vehemente Gegenreaktionen der Besatzer und der Vichy-Regierung zur Folge, die sich teils auch auf die Zivilbevölkerung auswirkten und erhebliches Misstrauen gegen die Résistance schürten. Wie Paxton unter Bezugnahme auf seine Quellen betont, gingen alle beteiligten Parteien – die Deutschen, Vichy, aber auch die Résistance selbst – aus dieser Episode beschädigt hervor.

Wer waren die Akteure?

Nach wie vor gibt es keine belastbare Theorie dazu, was Menschen bewegte, sich der Résistance anzuschließen. Ihre Mitglieder rekrutierten sich unabhängig von Konfession oder Familienstand aus allen Altersgruppen und gesellschaftlichen Schichten Frankreichs. Während zu Beginn des Krieges und in der Phase der kommunistischen Neutralität noch die konservativen Tendenzen dominierten, was auch die zentrale Rolle De Gaulles nahelegt, begann sich das soziale Profil der Résistance mit den kommunistischen Aktionen ab August 1941 in Richtung Arbeiter und Intellektuelle zu verschieben.

Eine weitere Welle des Zulaufs erfuhr der französische Widerstand mit Erlass des Service de travail obligatoire (STO) durch Vichy, das ab Februar 1943 französische Arbeitskräfte für den Einsatz in der deutschen Kriegswirtschaft zu rekrutieren begann. Tatsächlich schloss sich aber nur eine Minderheit der jungen Verweigerer der Résistance an. Diese war kaum in der Lage, ihre Mitglieder zu ernähren, geschweige denn zu einer schlagkräftigen Truppe zu formieren.

Einen größeren Anteil am Widerstand als es der nationalen Legende lieb sein konnte, stellten  hingegen Ausländer. Interbrigadistische Veteranen hatten den Faschismus bereits im spanischen Bürgerkrieg bekämpft. Nach dem Sieg Francos und ihrer erzwungenen Flucht über die Pyrenäen hatten sie nichts mehr zu verlieren. Angesichts der ihnen in Frankreich drohenden Zwangsrückführung brachten sie ihre wertvolle Guerilla-Erfahrung nunmehr in den französischen Widerstand ein. Nicht zu unterschätzen waren schließlich auch die zahlreichen Soldaten aus den französischen Kolonien der Maghrebstaaten sowie der subsaharischen Gebiete, die etwa 50-60 Prozent der in Nordafrika ausgebildeten und von den USA bewaffneten neuen französischen Befreiungstruppen stellten.

Jüdische Immigranten – vor die Wahl gestellt zwischen Internierung und Einsatz in Arbeitskommandos – gingen ebenfalls in großer Zahl in den Widerstand, wobei sich die Kommunisten unter ihnen nicht selten einer der aggressivsten paramilitärischen Gruppen der kommunistischen Partei anschlossen. Auch die zionistische Armée Juive, die mit wohltätigen Aktionen begann, radikalisierte sich mit dem Verschwinden Angehöriger zunehmend.

Ein Verdienst der neueren Forschung ist es, den lange unterschätzten Anteil der Frauen am Résistancegeschehen in den Blick zu nehmen. Deren Aktionsfelder erstreckten sich von Kurierdiensten über Beteiligung an der Widerstandspresse bis hin zu Kampfhandlungen. Wenige unter ihnen, wie Marie-Madeleine Fourcade oder Berty Albrecht, gelangten dabei in Führungsrollen. Dass eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Résistance gerade unter Gender-Perspektive auch positive Auswirkungen auf die Erinnerungskultur haben kann, zeigt sich etwa mit der 2015 erfolgten Überführung Germaine Tillions und Geneviève de Gaulle-Anthonioz‘ in das Pantheon. Mit den beiden hat sich inzwischen die Anzahl der Frauen in diesem männerdominierten nationalen Heiligtum verdoppelt.

Wie viele echte Résistants gab es?

Diese Frage ist schwer zu beantworten, da sie nicht zuletzt von der Definition des Begriffes „Widerstand“ abhängt. Wenn man die Leser der verbotenen Widerstandspresse hinzuzählt, käme man auf mehrere Millionen Sympathisanten. Die Anzahl aktiv Mitwirkender hingegen, die eine illegale Aktion und somit ein gewisses Risiko eingingen, dürfte nach aktuellem Erkenntnisstand über den Gesamtverlauf des Krieges hinweg etwa bei 300.000 – 500.000 Personen gelegen haben.

De Gaulles beständiges Bemühen, die spontan sich formierenden, zersplitterten Résistancegruppierungen des freien Frankreich zu einen und sie zu einer effizienten militärischen Kraft unter seiner Führung zu organisieren, stießen auf dem Festland durchaus auf Widerstand. Nicht alle vertrauten dem Machtanspruch eines Mannes, der sich selbst – wie der ungeliebte Adel zu Zeiten der französischen Revolution – ins Ausland in Sicherheit gebracht hatte. Nur der dringende Bedarf an Waffen und Geld ließ sie nolens volens in die Bildung eines Nationalen Widerstandsrats unter der Führung des De Gaulle-Vertrauten Jean Moulin einwilligen. Nach dessen Verhaftung und Ermordung durch die Gestapo agierten sie wieder selbstverantwortlich.

De Gaulles Autorität konnte sich, bedingt auch durch das anhaltende Misstrauen Präsident Roosevelts, definitiv erst 1944 nach der Landung der Alliierten zeigen, als die abtretenden Vichy-Autoritäten ihre Posten ohne großen Widerstand handverlesenen De Gaulle-Anhängern überließen – eine ungewöhnlich friedliche Form des Machtübergangs, die sich auch De Gaulles vierjähriger medialer Vorarbeit über die BBC verdankte.

Welchen Einfluss hatte die französische Résistance?

Es gilt heute als gesichert, dass die meisten militärischen Résistance-Aktivitäten innerhalb Frankreichs misslangen. Alle Versuche, bestimmte Gebiete vor der Landung der Alliierten unter Kontrolle zu bringen, waren zum Scheitern verurteilt und hatten für die jeweils Verantwortlichen entweder Verhaftung oder Tod und für die Zivilbevölkerung herbe Repressionen zur Folge. Dieser Umstand trug auch wesentlich dazu bei, dass die Résistance beim Volk nicht selten in Misskredit fiel.

In anderen Bereichen hingegen konnte die Résistance durchaus kleine Erfolge verzeichnen, z.B. bei der geheimen Informationsbeschaffung über militärische Ziele der Gegner (was gleichwohl von den Alliierten zu wenig genutzt wurde), bei der Rettung abgesprungener Piloten aus besetztem Gebiet oder im Rahmen von Sabotageakten auf Straßen und Bahnstrecken, die den deutschen Vormarsch tage- bis wochenlang verzögern konnten. Unterm Strich bleibt jedoch die Feststellung, dass die Résistance den Kriegsverlauf faktisch nicht beeinflusste. Die Alliierten hätten den Krieg gegen Deutschland auch ohne Hilfe des nationalen französischen Widerstands gewonnen.

„Darf man die Résistance auf ihr Werk reduzieren?“ – fragt Wieviorka in seiner Histoire de la Résistance abschließend und stellt fest, dass die Bedeutung dieser Bewegung ihre Aktionen und Bilanzen weit übersteigt. Denn sie legt Zeugnis dafür ab, dass sich Männer und Frauen gegen die demütigende Niederlage von 1940 und einen sich daran anschließenden widerwärtigen, faschistoiden Personenkult stemmten, und dass sie die Ideale eines freien Frankreich aufrecht erhielten, nicht selten um den Preis ihres eigenen Lebens. Ihr Vorbild ist das vielleicht wichtigste Erbe der Résistance.

 

Dieser Beitrag ist Teil des Grabungsfelds Drôle de guerre

Buchcover Robert Paxton Vichy France

Robert O. Paxton: Vichy France. Old guard and new order 1940-1944

Englisch /  Columbia University Press / 438 Seiten / ISBN: 978-0231124690

 

Buchcover Olivier Wieviorka Histoire de la Résistance

Olivier Wieviorka: Histoire de la Résistance

Französisch / Perrin / 576 Seiten / ISBN: 978-2262027995

 

 

Buchcover Robert Gildea Fighters in the Shadows

Robert Gildea: Fighters in de Shadows: A New History of the French Resistance

Englisch / Belknap Press / 608 Seiten / ISBN: 978-0674286108

 

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  1. Reiner

    Kein Wort davon ob diese Gruppierung illegal war oder nicht. Habe diese Frage noch nirgendwo gelesen. Frankreich hatte kapituliert und ein General akzeptiert das nicht,eigentlich eine Farce.

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Aux origines de la décroissance ist ein interessantes Editionsprojekt aus dem Umfeld von La Décroissance, einer der konsequentesten mir bekannten wachstumskritischen Zeitschriften, die nun schon seit 2004 standhaft durchhält. Drei französischsprachige Verlage, L’écosociété (Québec), L’échappée und Le pas de côté haben sich hier zusammengetan und ein erfolgreiches Dossier der Zeitung zu einer Anthologie ausgeweitet. Vorgestellt werden 50 Pioniere (darunter auch ein paar Pionierinnen) des wachstumskritischen Denkens – von Edward Abbey und Hannah Arendt über Albert Camus und Ivan Illich bis hin zu Henry David Thoreau, Leo Tolstoi und Simone Weil. Den Beiträgen vorangestellt ist jeweils ein markantes Portrait in Radierung, gefolgt von einer Seite mit ausgewählten Zitaten und wichtigen bibliographischen Hinweisen. Den Kern bildet jeweils eine etwa vierseitige pointierte Zusammenfassung von Leben und Bedeutung der vorgestellten Person für das Postwachstumsdenken. Wunderbare Appetithäppchen zum Einstieg ins Thema!

Der Soziologe Stefan Lessenich nähert sich in Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis (Hanser, 2016) dem Thema Postwachstum aus der kapitalismus- und globalisierungskritischen Perspektive sowie aus der Sicht der Nord-Süd-Kritik. Packend geschrieben und zugleich schwer verdaulich ist seine Diagnose der kapitalistischen Zentren der Welt als imperialistische Ausbeutungsgesellschaften, deren Wohlstand, Freiheiten und Lebensstil seit Jahrhunderten durch Auslagerung, durch eine Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten an die Länder des globalen Südens erkauft worden sei. Stabilisiert werde dieses Moment struktureller Gewalt durch das, was er als „Externalisierungshabitus“ bezeichnet: eine systematische Strategie des Ausblendens, des Nicht-wissen-Wollens und sich (notfalls gewaltsamen) Abgrenzens der privilegierten Gesellschaften, in der Lessenich die Prinzipien der Aufklärung selbst pervertiert sieht. Zugleich warnt er eindringlich vor den Folgen des weltgeschichtlichen Bumerang-Effekts, der den globalen Norden schon jetzt mit den Folgewirkungen seines Handelns konfrontiert.

Obwohl in vielen Belangen sicher treffend und aufrüttelnd, wird dieses Buch am schwersten wohl für all diejenigen verdaulich sein, die sich innerhalb der kapitalistischen Zentren selbst an den Rand gedrängt sehen.

Einen fundierten Einblick in das im deutschen Sprachraum bislang noch wenig systematisierte Feld von Degrowth/Postwachstum präsentieren Matthias Schmelzer und Andrea Vetter. Sie forschen in den Bereichen Wirtschaftsgeschichte und Kulturanthropologie und engagieren sich beide im Rahmen des Konzeptwerks neue Ökonomie aktiv zu Postwachstumsthemen. In ihrer Einführung definieren sie ihren Gegenstand sensibel im Spiegel verschiedener europäischer Traditionsstränge (Postwachstum/Degrowth/Décroissance). Sie zeigen ferner auf, wie die unterschiedlichen wachstumskritischen Perspektiven (ökologisch, sozial-ökonomisch, kulturell, kapitalismuskritisch, feministisch, industrialismuskritisch, Süd-Nord) bei aller vordergründigen Disparatheit sinnvoll zusammenlaufen und sich wechselseitig ergänzen können. Die Frage nach den Trägern des Wandels und den notwendigen Transformationsstrategien wird ebenso thematisch wie auch eine abschließende kritische Selbstreflexion, die zentrale Schwachstellen des Konzepts offenlegt und dadurch den Boden bereitet für eine Schärfung des Profils dieses noch jungen Forschungszweigs. Viele der hier im Grabungsfeld „Selbstbegrenzung“ aufgeführten Titel sind mir in dieser hervorragenden Einführung wieder begegnet und lassen sich dadurch in einen übergreifenden Kontext einordnen. Bei der Lektüre dieser Junius-Einführung (2019) wird klar, dass Postwachstum mehr ist als ein Nischenthema für ‚ökisch‘ angehauchte Weltverbesserer.