Archäologien des Lesens

Kategorie: Grabungsfelder

Selbstbegrenzung

Der folgende Beitrag ist Teil der Rubrik “Grabungsfelder“, in der ich mehrere Lektüren in einen breiteren thematischen Zusammenhang  stelle.

Lange habe ich über einen Titel für dieses Grabungsfeld nachgedacht, das sich aus sehr verschiedenen, aber dennoch thematisch konvergenten Lektüren zwischen Frühjahr 2019 und Winter 2020 abgezeichnet hat und das einen ziemlich großen Bogen schlägt von alternativen Formen der Landwirtschaft (Permakultur) über Mikrobiologie, Ökologie und Naturrechte bis hin zu Kapitalismuskritik, Postwachstum und daraus sich ergebende Fragen der politischen Theorie.

Die massive öffentliche Präsenz der Diskussion um die Klimakrise steht derzeit in einem gespenstischen Missverhältnis zur Unaufrichtigkeit, mit der sie im politischen Rahmen geführt wird. Schnell gerät man hier ins Fahrwasser von Schlagwörtern wie dem „Green new deal“, der „Energiewende“ oder dem „grünen Wachstum“, die doch allesamt eine gedankliche rote Linie nicht überschreiten: die Überzeugung, der technologische Fortschritt werde schon dafür sorgen, dass in der modernen westlichen Welt auch in Zukunft kaum jemand sich einschränken, niemand Verzicht wird üben müssen. So erwartet man sich von der flächendeckenden Elektromobilität einen Ausweg aus der dramatischen Verknappung fossiler Brennstoffe, die uns in den nächsten 30 Jahren bevorsteht. Außerdem soll ein bald schon serienfähiger Hybridmix aus Sonne, Wind und Geothermie dafür sorgen, dass die gigantische Energieerzeugungsmaschinerie zur Selbsterhaltung des kapitalistischen Wachstumsdogmas zuverlässig am Laufen bleibt.

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Baskische Flagge auf Holzhintergrund

Baskenland

Der folgende Beitrag ist Teil der Rubrik “Grabungsfelder“, in der ich mehrere Lektüren in einen breiteren thematischen Zusammenhang  stelle.

Meine Beschäftigung mit diesem rebellischen Nest inmitten des grünen spanischen Nordens ist noch jüngeren Datums und geht zurück auf eine Reise im September 2016. Eine kulinarische Fährte dorthin war schon in Barcelona gelegt worden, wo das Restaurant „Bilbao“ im Stadtteil Gracia unmissverständlich klar macht, dass die Basken es mit den Tapas allemal aufnehmen und noch viel mehr als nur Pintxos zubereiten können. Bei aller Traditionsfixiertheit scheint es – verglichen mit den freiheitsliebenden Katalanen – im Baskenland zum Thema Unabhängigkeit in den letzten Jahren eher still geworden zu sein. Und Angst vor baskischen Terroristen muss man inzwischen auch nicht mehr haben.

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Soldaten und Zivilbevölkerung vor Pariser Café, 1941

„Drôle de guerre“

Der folgende Beitrag ist Teil der auf Bouvard & Pécuchet neu eingerichteten Rubrik „Grabungsfelder„, in der ich mehrere Lektüren in einen breiteren thematischen Zusammenhang  stelle.

Die „Drôle de guerre“ und ihre Folgen

Frankreich zwischen Anpassung und Widerstand (1939-45)

Es ist nicht selbstverständlich, dass der deutsch-französische Freundschaftsvertrag schon seit 1963 Bestand hat, sondern Ergebnis des erklärten Willens beider Länder, nach Jahrhunderten kriegerischer Auseinandersetzungen zu einem gedeihlichen nachbarschaftlichen Verhältnis zu finden, das vorausblicken lässt. Heute hofft man auf die beiden Länder im Zentrum Europas als Motor des Einigungsprozesses. Gerade auch politisch scheint angesichts der aktuellen, oft länderübergreifenden Krisen eine stabile Mitte unverzichtbar: steigende Arbeitslosigkeit, Flüchtlinge, Terror und vielerorts ein gefährlicher gesellschaftlicher Rechtsruck sind akute Probleme, die gemeinsam gelöst werden wollen.

Appelle an nachbarschaftliches Einvernehmen erscheinen umso zwingender, wenn man zurückblickt auf die gemeinsame Geschichte: Zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert überstürzten sich die Konflikte zwischen Deutschland und Frankreich: In nicht weniger als sechs Kriegen fanden mehrere Millionen Angehörige beider Nationen den Tod. Der letzte dieser Kriege kam nicht überraschend und doch wurde er von französischer Seite unterschätzt. Das was als „drôle de guerre“ („komischer Krieg“) zunächst scheinbar harmlos begann, wuchs sich zu einem neuerlichen Weltkrieg aus. Und vielleicht ist es eine böse Ironie der Geschichte, dass führende gesellschaftliche Kreise Frankreichs, des Ursprungslands der Menschen- und Bürgerrechte, sich im Verlauf dieses Krieges von den Interessen Hitlers und der Nationalsozialisten nicht ganz unfreiwillig vereinnahmen ließen.

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Aux origines de la décroissance ist ein interessantes Editionsprojekt aus dem Umfeld von La Décroissance, einer der konsequentesten mir bekannten wachstumskritischen Zeitschriften, die nun schon seit 2004 standhaft durchhält. Drei französischsprachige Verlage, L’écosociété (Québec), L’échappée und Le pas de côté haben sich hier zusammengetan und ein erfolgreiches Dossier der Zeitung zu einer Anthologie ausgeweitet. Vorgestellt werden 50 Pioniere (darunter auch ein paar Pionierinnen) des wachstumskritischen Denkens – von Edward Abbey und Hannah Arendt über Albert Camus und Ivan Illich bis hin zu Henry David Thoreau, Leo Tolstoi und Simone Weil. Den Beiträgen vorangestellt ist jeweils ein markantes Portrait in Radierung, gefolgt von einer Seite mit ausgewählten Zitaten und wichtigen bibliographischen Hinweisen. Den Kern bildet jeweils eine etwa vierseitige pointierte Zusammenfassung von Leben und Bedeutung der vorgestellten Person für das Postwachstumsdenken. Wunderbare Appetithäppchen zum Einstieg ins Thema!

Der Soziologe Stefan Lessenich nähert sich in Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis (Hanser, 2016) dem Thema Postwachstum aus der kapitalismus- und globalisierungskritischen Perspektive sowie aus der Sicht der Nord-Süd-Kritik. Packend geschrieben und zugleich schwer verdaulich ist seine Diagnose der kapitalistischen Zentren der Welt als imperialistische Ausbeutungsgesellschaften, deren Wohlstand, Freiheiten und Lebensstil seit Jahrhunderten durch Auslagerung, durch eine Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten an die Länder des globalen Südens erkauft worden sei. Stabilisiert werde dieses Moment struktureller Gewalt durch das, was er als „Externalisierungshabitus“ bezeichnet: eine systematische Strategie des Ausblendens, des Nicht-wissen-Wollens und sich (notfalls gewaltsamen) Abgrenzens der privilegierten Gesellschaften, in der Lessenich die Prinzipien der Aufklärung selbst pervertiert sieht. Zugleich warnt er eindringlich vor den Folgen des weltgeschichtlichen Bumerang-Effekts, der den globalen Norden schon jetzt mit den Folgewirkungen seines Handelns konfrontiert.

Obwohl in vielen Belangen sicher treffend und aufrüttelnd, wird dieses Buch am schwersten wohl für all diejenigen verdaulich sein, die sich innerhalb der kapitalistischen Zentren selbst an den Rand gedrängt sehen.

Einen fundierten Einblick in das im deutschen Sprachraum bislang noch wenig systematisierte Feld von Degrowth/Postwachstum präsentieren Matthias Schmelzer und Andrea Vetter. Sie forschen in den Bereichen Wirtschaftsgeschichte und Kulturanthropologie und engagieren sich beide im Rahmen des Konzeptwerks neue Ökonomie aktiv zu Postwachstumsthemen. In ihrer Einführung definieren sie ihren Gegenstand sensibel im Spiegel verschiedener europäischer Traditionsstränge (Postwachstum/Degrowth/Décroissance). Sie zeigen ferner auf, wie die unterschiedlichen wachstumskritischen Perspektiven (ökologisch, sozial-ökonomisch, kulturell, kapitalismuskritisch, feministisch, industrialismuskritisch, Süd-Nord) bei aller vordergründigen Disparatheit sinnvoll zusammenlaufen und sich wechselseitig ergänzen können. Die Frage nach den Trägern des Wandels und den notwendigen Transformationsstrategien wird ebenso thematisch wie auch eine abschließende kritische Selbstreflexion, die zentrale Schwachstellen des Konzepts offenlegt und dadurch den Boden bereitet für eine Schärfung des Profils dieses noch jungen Forschungszweigs. Viele der hier im Grabungsfeld „Selbstbegrenzung“ aufgeführten Titel sind mir in dieser hervorragenden Einführung wieder begegnet und lassen sich dadurch in einen übergreifenden Kontext einordnen. Bei der Lektüre dieser Junius-Einführung (2019) wird klar, dass Postwachstum mehr ist als ein Nischenthema für ‚ökisch‘ angehauchte Weltverbesserer.