Agnès Humbert: Notre guerre. Journal de Résistance 1940-1945

Wenn in Deutschland vom antifaschistischen Widerstand der französischen Résistance während des zweiten Weltkriegs die Rede ist, dann verbinden wir damit vor allem den Namen eines Mannes, dessen grandiose posthume Inszenierung sich ins historische Gedächtnis nicht nur Frankreichs eingebrannt hat: 1964 wurde Jean Moulins Asche mit großer Geste ins Pantheon, den heiligen Schrein der nationalen französischen Erinnerungskultur überführt. Charles de Gaulle, der Moulin 1941 von London aus mit der Mission betraut hatte, die zersplitterten Widerstandsgruppen auf dem Festland zu einen, war zu diesem Zeitpunkt schon fünf Jahre Präsident und Kulturminister André Malraux hielt jene Rede, die in düsteren Farben den Mythos des edlen Résistancehelden stellvertretend für alle begründen sollte, die im nationalen Widerstand ihr Leben gelassen hatten:

Chef de la Résistance martyrisé dans des caves hideuses, regarde de tes yeux disparus toutes ces femmes noires qui veillent nos compagnons : elles portent le deuil de la France, et le tien. […] Entre ici Jean Moulin, avec ton terrible cortège. Avec ceux qui sont morts dans les caves sans avoir parlé, comme toi, et même ce qui est peut-être plus atroce, en ayant parlé. (Übersetzung)

Das Schwarzweißfoto des smarten 42-Jährigen mit Hut und Schal, der den Fängen der Gestapo nicht entkommen war, ging um die Welt. Das bedeutete aber auch, dass viele andere mutige Männer und Frauen des Widerstands – zum Teil bis heute – in den Hintergrund treten mussten, weil die Bühne nationalen Gedenkens längst schon besetzt war von einer Persönlichkeit, die sich für den gaullistischen Gründungsmythos perfekt vereinnahmen ließ. Oder weil man es weit über die 60er Jahre hinaus noch gewohnt war, den Frauen, wenn es um Gestaltung von Geschichte ging, allenfalls die hinteren Plätze der Bewundernden oder der passiv Beweinenden anzuweisen.

Frauen in der Résistance

Impulse zur Frage, welchen Anteil Frauen am Résistancegeschehen hatten, kamen in der Geschichtsforschung bislang eher aus dem englischsprachigen Raum. So nahm z.B. die Amerikanerin Margaret Collins Weitz in Sisters in the Resistance. How Women Fought to Free France 1940–1945 im Jahr 1995 eine erste spezifische Rollenanalyse auf der Basis von Zeitzeugenberichten vor. Der englische Historiker Robert Gildea greift 2015 diese Tradition auf. In Fighters in The Shadows. A New History of The French Resistance legt er das zentrale Dilemma plausibel dar: In einer Zeit, in der alle wehrfähigen Männer an der Front oder in Kriegsgefangenschaft waren, mussten die ersten Initiativen zum Widerstand notwendig von Frauen und älteren Männern ausgehen. Zugleich standen ihrem politischen Engagement (das Wahlrecht für Frauen wurde in Frankreich erst 1944 eingeführt) noch tief verwurzelte patriarchale Konventionen entgegen, die unter der reaktionären Vichy-Regierung und deren ideologischer Trias „Arbeit, Familie, Vaterland“ sogar noch besonders kultiviert wurden. Im Widerstand aktive Frauen hatten also gewissermaßen an zwei Fronten zu kämpfen: gegen die Deutschen und gegen tief sitzende Geschlechterstereotypen. Wenn frau nicht anecken wollte, bedeutete dies selbst im Widerstand vor allem eins: Nicht allzu männlich erscheinen! In vielen Fällen führte dies dazu, dass Frauen in der Résistance schon von sich aus eher geschlechterkonforme Rollen übernahmen, z.B. in der Krankenpflege, bei der Nahrungsmittelversorgung oder als Schreibkräfte.

Dennoch gewannen Frauen im Widerstand gerade in dem Maß an Bedeutung, in dem sie aufgrund der gängigen Geschlechterklischees auch vom militärischen Feind systematisch unterschätzt wurden: In allen Bereichen der geheimen, illegalen Aktion – etwa bei der verdeckten Übermittlung von Botschaften bis hin zu Waffen und Sprengstoff – gingen sie Risiken ein, die den Vergleich mit männlichen Résistanceaktivitäten nicht zu scheuen brauchen.

Und doch ist es Gildea zufolge für Zeitzeugenberichte von Frauen typisch, dass sie ihren eigenen Anteil am Widerstand herunterspielen. 2004 zeigt Antoine Sabbagh sich irritiert, als er eben diese Tendenz zur Abwertung der eigenen Leistung bei seiner ansonsten durchaus selbstbewussten Großmutter entdeckt. In seinem Vorwort zur überarbeiteten Neuauflage von Agnès Humberts Notre guerre. Journal de Résistance 1940-45 bemerkt er:

La place qu’Agnès Humbert s’est assignée, celle de « lapin de couloir », de recruteur, est largement marquée par l’autodépréciation. L’époque et la Résistance font la part belle aux hommes, les femmes s’y vivent en secondes – dactylos, agents de liaison… -, très en dessous de l’action véritable de celle qui […] eut des responsabilités de premier plan. (Übersetzung)

Als Hitler im Mai 1940 in Frankreich einmarschiert, ist Agnès Humbert 44 Jahre alt, geschieden und hat zwei Kinder. Seit zehn Jahren ist sie in Pariser linksintellektuellen und kommunistischen Kreisen aktiv, hat sich damit weit von ihrem patriotisch-konservativen Herkunftsmilieu entfernt und arbeitet wissenschaftlich für das Pariser Musée des Arts et Traditions populaires, das neben dem Musée de l’Homme an der Place Trocadéro untergebracht ist. Ihr Tagebuch ist das packende Dokument des Schicksals einer Frau, die in den ersten Monaten der deutschen Besetzung eine tragende Rolle innerhalb des  „Réseau du Musée de l’homme“ gespielt hatte, einer französischen Widerstandsgruppe der allerersten Stunde.

Weg aus Paris!

Die Aufzeichnungen beginnen mit dem 7. Juni, der angespannten Stimmung in Paris und Gerüchten von den ersten motorisierten Vorposten der Deutschen, die die Hauptstadt erreichen. Das Museum, in dem Agnès Humbert arbeitet, ist nahezu vollständig evakuiert. Letzte Bücher werden verpackt und müssen wahrscheinlich zurückbleiben, wertvolle Stücke und kompromittierende Dokumente werden in privaten Kellern verstaut. Die Fassungslosigkeit, die ganz Paris lähmt, erscheint authentisch verdichtet an der Schnittstelle zweier Tagebucheinträge, an der Humbert das Unsagbare wie eine dunkle Wolke über dem Horizont der blühenden Stadt heraufziehen lässt:

Oui, il faut s‘accoutumer à cette chose horrible : Paris peut être pris. On peut le penser, mais de là à prononcer ces mots : « Paris peut être pris », il y a loin. Une espèce de superstition me fait taire. Il y a des choses dont il ne faut pas parler de peur de les voir se réaliser…

Paris, 11 juin 1940.

Paris n’a jamais été si beau, si fleuri. La cour du Carrousel semble être prête pour une exposition horticole. Je la regarde des bureaux de la Direction des musées nationaux où nous sommes tous réunis, la valise à la main. On parle bas, comme dans la maison d’un mourant. (Übersetzung)

Neun Tage später erreicht sie das Haus ihrer Cousine in Vic-sur Breuil bei Limoges, wo sie mit ihrer Mutter vorerst unterkommt. In den folgenden Tagen sieht sie hunderte von französischen und belgischen Flüchtlingen in einer endlosen Schlange durch den kleinen Provinzort weiter Richtung Süden ziehen. Humberts eigener neuntägiger Exodus an der Seite derer, die sich zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Auto auf den Weg gemacht hatten und die Dramen, die sich dabei abspielten, erscheinen ihr wie ein „zu schnell gedrehter Film, in dem die Eindrücke sich überschlagen“. Obwohl der Tagebucheintrag vom 20. Juni 1940 nicht länger als eine Seite ist und sich kaum in Details verliert, erinnert doch alles an ihm an die literarische Version dieser Ereignisse in „Tempête en juin“, dem ersten Teil von Irène Némirovskys berühmt gewordenen Roman Suite française. Während die verfolgte russischstämmige Jüdin Némirovsky in ihrer Generalabrechnung mit den Franzosen dieses Thema jedoch genüsslich ausweidet, wird Humbert das beeindruckende Pendant zur verbreiteten Haltung liefern, der es vor allem darum ging, die eigene Haut zu retten und – wenn möglich – auch noch den dazugehörigen Besitzstand.

Auf BBC London hört sie die wenig attraktive Stimme „eines Generals“, dessen Name ihr entgeht und der die Franzosen aufruft, sich um ihn zu versammeln und weiterzukämpfen.

Je revis. Un sentiment que je croyais mort pour toujours renaît en moi : l’espoir. Il y a tout de même un homme – un seul peut être – qui réalise ce que mon cœur ne cesse de répéter :  « Ce n’est pas fini ». (Übersetzung)

Sie kehrt zurück nach Paris, wo man in nächtlichen Aktionen schon die ersten deutschen Propagandaplakate wieder von den Wänden zu reißen beginnt. Während die weiter sendende BBC vorerst einziger Trost und Lichtblick bleibt, findet man sich in der allgemeinen Depression bald schon zusammen: Yvonne Oddon, Jean Cassou und seine Frau, Boris Vildé und Pierre Brossolette, – viele ehemalige Kollegen aus der Museumsarbeit, deren Bekannte und Freunde bis hin zur sympathisierenden Concièrge Mme Homs. Keimzelle des sich formierenden Widerstands sind die wöchentlichen konspirativen Treffen im Büro des Verlegers Emile-Paul. Man beginnt Aufrufe und Flugblätter zu entwerfen, hektographiert und verbreitet sie unterm Volk. Nach wenigen Wochen kommt es zur Gründung der Zeitschrift Résistance, von der zwischen Dezember 1940 und März 1941 fünf Ausgaben erscheinen, bis die ersten Verhaftungen einsetzen. Die erstaunliche Unbekümmertheit, mit der die Gruppe ans Werk geht – man operiert zunächst ohne Decknamen und Agnès läuft mit der Schreibmaschine im Arm durch die Straßen – zeigt, dass ein wirksamer Widerstand nicht vom Himmel fiel, sondern erst mühsam erlernt werden musste. Im Fall des frühen Réseau du musée de l’homme bezahlten nicht wenige diesen Lernprozess mit ihrem Leben.

Dem Mythos Résistance auf der Spur

Bis zu ihrer Verhaftung am 13. April 1941 sind Agnès Humberts Aufzeichnungen authentische Tagebucheinträge, die gerade im Spiegel der Unmittelbarkeit des Erlebten interessante Rückschlüsse auf die Entstehung des französischen Résistancemythos zulassen.

Aus politischer Sicht bemerkenswert ist der Umstand, dass in ihren Aufzeichnungen Charles de Gaulle bereits als unumstrittene Führungsfigur des aufkeimenden Widerstands in Erscheinung tritt. Der katholisch-konservativ Geprägte wurde also schon in dieser Frühphase zu einem Fixpunkt selbst kommunistischer Aktivisten, was nicht zuletzt auch der Unübersichtlichkeit einer Situation geschuldet war, in der alles, was der nationalsozialistischen Invasion die Stirn bot, dankbar aufgegriffen wurde. „In welch seltsamer Lage wir waren!“, schreibt Humbert am 20. Oktober 1940:

Nous voilà tous gens ayant, pour la plupart, dépassé la quarantaine, courant comme des étudiants enthousiastes et fervents derrière un chef dont nous ne savons rien, dont aucun de nous n’a vu la photographie. (Übersetzung)

Das gemeinsame Ziel reicht zu diesem Zeitpunkt schon aus. In dieser extremen Bedrohung durch den Faschismus schien das einfache „Bedürfnis nach moralischer Hygiene“ selbst politische Gegensätze im gemeinsamen Widerstand gegen den äußeren Feind aufgehen zu lassen. Auch wenn dies im weiteren Verlauf der Résistance nicht so bleiben sollte und Jean Moulin bereits Schwierigkeiten hatte, die verschiedenen Gruppierungen hinter de Gaulle zu vereinen, so dürfte dessen rettende Stimme inmitten des anfänglichen Chaos genügt haben, dem Mythos ein tragfähiges Fundament zu geben.

Aus ethischer Sicht bemerkenswert ist die Radikalität des Unternehmens. Die Entscheidung für den Widerstand ist mit einem erklärten Verzicht auf Gewaltlosigkeit verbunden. Humberts Aufzeichnungen zeugen von einem klaren Wissen darum, dass durch eigenes Tun auch Unschuldige zu Tode kommen werden. „Wo sind meine schönen humanitären Theorien geblieben?“ fragt sie sich Ende Dezember 1940. Eine Frage, die nicht alle so kompromisslos für sich beantworten wie sie: „Um das nicht mehr mitansehen zu müssen, müssen wir töten. Töten wie die wilden Tiere. Töten, um zu leben. Hinterhältig und nach Plan töten, selbst Unschuldige. Es muss sein und ich werde es tun“. Nicht alle Franzosen, die antifaschistisch eingestellt waren, teilten diese Einstellung. Man denke nur an Jean Giono oder Simone Weil.

Aus psychologischer Sicht bemerkenswert, wenn auch nicht überraschend, ist schließlich die ungeheure Aufbruchsstimmung, die den intellektuellen Kreis erfasst, in dem Humbert bislang verkehrte: allesamt Menschen, die sich mit der Unterwerfung Frankreichs unter den Faschismus nicht abfinden wollen. Selbst wenige Monate später verdichten sich Optimismus und Tatkraft im weiteren Verlauf der Ereignisse – über Entdeckung, Inhaftierung und Verhöre bis hin zu den Urteilsvollstreckungen – zu dramatischen Banden der Freundschaft. Die oft parallele Inhaftierung der Widerständler im Gefängnis in der Pariser Rue du Cherche-Midi sorgt dafür, dass sich zwischen den Zellen eine intensive, heimliche Kommunikation etabliert und man stets informiert bleibt über den Stand der Verhöre, sich Mut zuspricht, in konzertierten Aktionen die Marseillaise singt, gemeinsam Parolen wie „Vive la France!“ oder „Vive de Gaulle!“ skandiert und sogar ein provisorisches ‚Gefängnisradio‘ gründet. Die Schicksalsgemeinschaft schafft außerordentliche Nähe: „Es ist unglaublich, was wir uns im Gefängnis umarmen, wo wir doch zwischen vier dicken Wänden hinter Schloss und Riegel sind“, schreibt Humbert in der Rückschau. Mit fortschreitender Haftdauer scheint sich in der Psyche der Inhaftierten eine Parallelwelt herauszubilden, in der man, von der Außenwelt isoliert, seine eigenen Überlebensstrategien entwickelt.

„Das höllische Drama des Hitlerismus“

Anders als die meisten ihrer Mitstreiter überlebt Humbert. Sie bezahlt jedoch einen hohen Preis. „Fünf Jahre Haft“ lautet das Urteil, das am 11. Februar 1942 im Gefängnis von Fresnes bei Paris gefällt wird, und schließlich „Arbeitseinsatz im deutschen Reich“. Hier beginnt der bedrückende Teil der Lektüre.

Drei Jahre lang arbeitet Agnès Humbert von nun an unter menschenverachtenden Bedingungen für die deutsche Kriegsindustrie. Zwischen April 1942 und April 1945 wird sie fünf Mal verlegt, unter anderem nach Anrath, der berüchtigtsten aller deutschen Zwangsarbeiterfabriken, und schließlich in die Krefelder Phrix-Textilwerke, wo der Kontakt mit Chemikalien bei der Herstellung von Kunstseide regelmäßig zu schmerzhaften Verätzungen führt. Enge, Schlafmangel, katastrophale hygienische Zustände und Unterernährung in den Massenunterkünften der Arbeiterinnen sowie demütigende Formen der Entpersonalisierung treiben die Frauen an die äußerste Grenze physischer und psychischer Erschöpfung.

Und doch behält Agnès Humbert in dieser Zeit ein feines Gespür für die Menschen, die ihr begegnen. Ihre Sympathien machen vor nationalen Schranken nicht Halt. Sie bleibt sensibel für die Opfer, die das „höllische Drama des Hitlerismus“ auch in Deutschland selbst fordert: für „reine Arierinnen“, die es gewagt hatten, eine Ehe mit einem Juden einzugehen, für Elfrida, die für den Tausch von Fleisch gegen Schuhe mit zwei Jahren Zuchthaus bestraft, oder für Annie, die bei ihrem Nazifunktionärsmann in Ungnade gefallen und nach 26 Ehejahren bequem in die Psychiatrie entsorgt worden war.

So sensibel sie während der Zwangsarbeit den Opfern begegnet, so konsequent wird Humbert dann auch mitwirken, wenn es darum geht, die Täter dingfest zu machen und zur Rechenschaft zu ziehen. Über zwei Monate wird sie nach der Befreiung noch in Deutschland bleiben, um Antifaschisten zu entlasten und die Nazis aus ihrem Umfeld hinter Schloss und Riegel zu bringen, – ein tief sitzendes Bedürfnis, das sich in Frankreich schon sehr früh bei ihr geregt hatte. Schon Ende Dezember 1940, also noch mitten im Widerstand, schreibt sie in Paris: „Wir müssen ab sofort die schwarze Liste der Wendehälse, der Profiteure, der Idioten zusammenstellen. Die Vierte Republik wird mit ihnen nichts anfangen können oder, besser noch, sie wird schon wissen was sie mit ihnen anstellt!“. Sicherlich war es ein vitales Bedürfnis nach Wahrheit und Gerechtigkeit, das sie noch bis Juni 1945 in Deutschland hielt. Vielleicht aber auch die tief sitzende Angst, nach vier Jahren Abwesenheit in ein Land und zu einer Familie zurückzukehren, deren Leben inzwischen weitergegangen war.

Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen

Nur selten waren während ihrer Inhaftierung in Deutschland Nachrichten von ihrer Familie zu ihr vorgedrungen: im Oktober 1942 hatte Agnès von der Geburt ihres ersten Enkels erfahren, Anfang 44 vom Tod ihrer Mutter. Dazwischen – im Januar 43 – notiert sie den Empfang eines Briefes, dessen Inhalt ihren Enkel Antoine Anfang der 70er Jahre, als er den schriftlichen Nachlass der Großmutter entdeckt, besonders schockieren wird: „Heute kam ein Brief von daheim. Mein Enkel hat zwei Zähne. Jean und Monique waren im Skiurlaub in Savoyen.“

„I read them again, seething with rage“, schreibt Sabbagh im Guardian, „While my grandmother was a slave of the Reich, my parents were off in the mountains enjoying winter sports!“1 Diesen scheinbar skandalösen Umstand  aufzuklären und zu verstehen, warum nur ein verschwindend geringer Anteil Franzosen aktiven Widerstand leistete, während die breite Masse eine abwartende Haltung einnahm und in Ahnungslosigkeit und Gleichgültigkeit verharrte, wird Sabbagh sich zur Aufgabe machen. Sie ermöglicht ihm eine Neubegegnung mit seiner längst verstorbenen Großmutter, an deren Ende  die Publikation ihres längst vergessenen Tagebuchs steht.

Der Anfang dieser Begegnung ist übrigens einem sehr französischen Zufall zu verdanken: Eine Philosophie-Hausaufgabe hatte den 17-Jährigen im heimischen Bücherregal auf eine Ausgabe von Descartes Discours de la méthode stoßen lassen, die sich als das Buch herausstellte, das Agnès in Zelle 70 des Gefängnisses von Fresnes bei sich gehabt hatte. Auf Seite 31 findet er folgende Passage unterstrichen:

Ma troisième maxime était de tâcher toujours plutôt à me vaincre que la fortune, et à changer mes désirs que l’ordre du monde; et généralement, de m’accoutumer à croire qu’il n’y a rien qui soit entièrement en notre pouvoir, que nos pensées, en sorte qu’après que nous avons fait notre mieux, touchant les choses qui nous sont extérieures, tout ce qui manque de nous réussir est, au regard de nous, absolument impossible. (René Descartes: Discours de la méthode) (Übersetzung)

Am Rand hatte sie handschriftlich vermerkt: „Niemals wahrer als am 11. Februar 1942, dem Tag, an dem der Ankläger mein Urteil beantragte: Fünf Jahre Haft.“

Authentisch und fesselnd schildert Agnès Humbert in ihrem Journal de Résistance die Kollision des Freien Frankreich mit den ruinösen Verstrickungen des deutsch-französischen Faschismus und liefert zudem noch ein beeindruckendes Zeugnis weiblicher Emanzipation. Längst schon wäre es an der Zeit, dieses Buch auch einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen.

 

Dieser Beitrag ist Teil des Grabungsfelds Drôle de guerre

Cover Agnès Humbert: Journal de Résistance 1940-1945

Agnès Humbert: Notre guerre. Journal de Résistance 1940-1945

Französisch / Editions Points 2010 / 352 Seiten / ISBN: 978-2757817438