Céline Minard: Das große Spiel / Le grand jeu
Zum dritten Mal wird der Berliner Matthes & Seitz Verlag in diesem Jahr einen Literaturpreis für Nature-Writing vergeben. Das literarische Schreiben über die Natur kommt aus dem angelsächsischen Raum und hat sich in der Nachfolge Henry David Thoreaus bis heute zu einer durchaus politischen Gattung entwickelt, die derzeit wieder ganz neu entdeckt wird. Das überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass die Ausbeutung begrenzter Ressourcen und die damit verbundene Entfremdung des Menschen von der Natur weltweit voranschreitet. In der deutschsprachigen Literatur sieht es mit diesem Genre bislang allerdings noch recht mager aus. Zwar türmen sich in deutschen Buchhandlungen Sachbücher über Wald- und Bienensterben oder städtisches Guerillagärtnern, im Bereich der Belletristik scheint allerdings erst allmählich ein Bewusstsein dafür aufzukommen, dass das Schreiben über das Verhältnis von Mensch und Natur auch zwei Jahrhunderte nach der deutschen Romantik durchaus wieder zu einem Gegenstand literarischer Reflexion werden kann.
Über Natur schreiben bedeutet immer auch, über den Menschen zu schreiben, sich auf ein Minimum zu beschränken, um Fragen des Menschseins und der Grenzen von Menschlichkeit zu erkunden. Mit Céline Minards Das große Spiel hat Matthes & Seitz jetzt eine Übersetzung aus dem Französischen aufgelegt. Es ist ein Roman, der ein imposantes Gebirgsszenario als Schauplatz wählt und sich zugleich in eine lange literarische Tradition der Selbsterforschung und des Erkundens der eigenen Innerlichkeit einschreibt. Es ist ein Spiel mit den großen Fragen des Lebens, das da in der Abgeschiedenheit der Bergwelt auf über 1600 Metern Höhe inszeniert wird, aber auch ein zähes Ringen um dessen Spielregeln: Wie wollen und können wir leben? Was brauchen wir dazu? Es geht um die alte menschliche Sehnsucht, sich aus einer ungenießbar gewordenen Gesellschaft zurückzuziehen in eine naturnahe, autarke Existenz, aber auch um die Frage, inwiefern dieser Rückzug zum Ausgangspunkt für einen Neuanfang werden kann. Bei aller Zeitlosigkeit des Themas legt Minard hier ein hoch aktuelles Buch vor, das die meisten Erwartungen, die man hierzulande mit dem Schreiben über Natur verbindet, virtuos unterläuft.
Absage an die Romantik
Eine Frau kehrt der Zivilisation den Rücken und lässt sich in der totalen Einsamkeit der Berge aussetzen. Für dieses Experiment hat sie alle nur denkbaren technischen Vorkehrungen getroffen: Ihr Refugium ist eine Röhre aus glasfaserverstärktem Kunststoff und Hart-PVC, einem Flugzeugrumpf ähnlich, der lawinensicher zwischen Abgrund und Fels schwebt, fest an seine Stahlschiene gezurrt. Wärme und Strom werden über Fotovoltaikplatten gewonnen, die gekoppelt sind an eine Anlage zum Schmelzen und Abkochen von Schnee. Zum hundert Meter tiefer liegenden Sanitärmodul seilt sie sich bequem ab. Ein Fußweg führt hinunter zu einer flachen Ebene, die einmal ihr Garten werden soll. Dieses Arrangement ist der Ausgangspunkt für umfassende Streifzüge zur Erkundung des umgebenden Terrains.
Minards Protagonistin ist eine Frau, die sich den dreidimensionalen Raum ihres alpinen Refugiums methodisch aneignet. Er wird von ihr durchwandert, vermessen, markiert und erklettert, und zwar stets mit modernster Ausrüstung und technischem Know-how. Mit seinen besonderen physischen Herausforderungen wird der natürliche Raum ihr bald zu einem Resonanzraum der Psyche und als solcher zu einem wohlkalkulierten Experimentierfeld:
Ce monde d’isolement, de vide, de grands froids, de grosses chaleurs, de roche dure, de silence et de cris animaux, laisse peu de choix. C’est un guide précis. La situation dans laquelle je suis est pensée, calculée pour établir un entraînement maximal. Je l’ai soigneusement choisie. Je lui ai accordé mon assentiment le plus profond. Reste à découvrir si l’empreinte qu’elle a laissée dans mon esprit est une lumière – ou une erreur. (Übersetzung)
Dass sie keinerlei romantische Beziehung zu der sie umgebenden Natur aufbaut, ist Teil des Programms, denn Romantik kommt den potentiell destruktiven Kräften, die das Feld menschlicher Intersubjektivität strukturieren, gefährlich nahe: „Versprechen“ und „Drohung“ sind die beiden Pole, die sie in ihren philosophischen Reflexionen immer wieder umkreist und die den Kern des Experiments allmählich greifbar werden lassen: „Gern würde ich mir eine menschliche Beziehung vorstellen, die nichts mit einem Versprechen oder einer Drohung zu tun hat. Die nichts, aber auch gar nichts mit Verführung oder Zerstörung zu tun hat“. Gibt es eine solche Beziehung oder muss sie erst neu erfunden werden? Ist es möglich, noch einmal bei Null anzufangen? Und wenn ja: Ist die Einsamkeit der Bergwelt ein geeigneter Ort dafür?
Was Minards Protagonistin an der Natur fasziniert, ist deren Gleichgültigkeit, eine vollkommene Intentionslosigkeit, die sie über alle manipulativen Spielchen der menschlichen Sphäre erhebt. Gerade diese moralische Indifferenz scheint ihr Freiheit überhaupt erst zu ermöglichen:
La montagne n’a pas de bon sens. Elle n’est pas vivable. Elle me rappelle quotidiennement que ce monde n’est pas le mien. Il ne m’appartient pas, il ne me sert pas. Il n’est pas exploitable, c’est à peine si on peut y tenir un jardin. Mais je vois tout. Je vois les changements, j’assiste aux métamorphoses. […] Il n’y a aucune stabilité, nulle part, l’activité est constante et contrairement à celle des mégapoles, elle n’a aucun rapport avec nous. Ce monde n’est pas fait pour nous, et c’est un immense soulagement. Il n’est pas fait pour nous : on peut donc y vivre – si on y parvient. (Übersetzung)
Es geht ein Eindruck abweisend-kühler Faszination von dieser Natur aus, die die Betrachterin in respektvoller Distanz hält. Und was so manchem den kalten Schauer über den Rücken jagt, lässt Minards Aussteigerin geradezu aufatmen: Dass diese Welt nicht für uns gemacht ist, empfindet sie als „riesige Erleichterung“. Man spürt förmlich den sozialen Druck, der von ihr abfällt in einem Umfeld, das sie trotz aller Lebensfeindlichkeit überhaupt erst als bewohnbar erlebt.
Die Frage nach dem Überleben inmitten einer gefühllosen Natur war immer schon ein Referenzpunkt des Nature-Writing. In den schneebedeckten Weiten Alaskas prägte Jack London schon Ende des 19. Jahrhunderts den Begriff des „weißen Schweigens“ als Metapher. Doch ganz im Gegensatz zur verbreiteten Einschätzung waren Londons Helden keine einsamen Wölfe, denn sie erkannten sehr wohl, dass das weiße Schweigen nur durch Verbindung zu anderen Menschen, durch Kameradschaft und gegenseitige Hilfe überwunden werden kann. Bei Minard sind die Verhältnisse etwas komplexer, denn ihre Protagonistin leidet ja keine Not. Materiell ist sie bestens gewappnet gegen alle möglichen physischen Bedrohungen. Nein, was sie umtreibt ist vielmehr ein Erkenntnisproblem, dem sie methodisch nicht beikommt und das sie alleine nicht lösen kann.
Kann man gegen sich selbst Schach spielen?
Man kann es nicht. Man braucht einen realen Gegner. Und dieser dringend benötigte Widerpart lässt auch dort oben nicht lange auf sich warten. Erst im Horizont der Zweitlektüre wird man sich dessen bewusst, wie sorgfältig das Erscheinen dieser Figur schon von Anfang an vorbereitet wird, mit welch subtilen Details Minard sie schon früh im Roman ankündigt, indem sie den Naturraum fast unmerklich mit Zeichen aus einer anderen Welt versieht: ein Bambushain, den ihre Aussteigerin dort oben pflanzt; eine Scharte im Kamm zwischen zwei scharfen Felsblöcken, die den Schuppen eines Drachen gleichen; ein menschliches Schattenspiel – „des ombres chinoises“ – im Mondlicht über der Felsscharte. Worauf Minard hier zusteuert, ist die Konfrontation ihrer Heldin mit einer der verrücktesten literarischen Figuren, die mir je begegnet ist: ein der chinesischen Mythologie entsprungenes, mönchartiges Wesen, zunächst nur als „Wollhaufen“ mit Hand erkennbar. Es entpuppt sich schließlich als Frau, wahrscheinlich (ganz sicher ist das nicht) ein ehemaliger chinesischer General, der in der Abgeschiedenheit der Bergwelt Verfehlungen sühnt.
Unsere Aussteigerin fühlt sich provoziert, denn eine menschliche Begegnung, ein Teilen des Raums mit „einem Undankbaren, einem Schwachsinnigen, einem Neider“ war in ihrem Experiment absolut nicht vorgesehen. Die Partie wird also eröffnet mit ein paar gegenseitigen Unflätigkeiten, bis das Eis schließlich bricht, denn alles an dieser unheimlichen Figur reizt sie: ihr rätselhaftes Äußeres, ihr uneindeutiges Geschlecht, ihr technisches Know-how, gepaart mit einer fabelhaften Körperbeherrschung, und nicht zuletzt auch ihre Trinkfestigkeit, kurz: die ganze freche Exzentrik eines Wesens, das ihr einer anderen Dimension (der Begriff „unsterblich“ fällt schon bald) entstiegen scheint und das auf den exotischen Namen „Dongbin“ hört.
Geht man diesem Namen nach, so stößt man schnell auf Lü Dongbin, den beliebtesten unter den acht Unsterblichen der chinesischen Volksreligion, der erstmals zur Zeit der Tang-Dynastie in Erscheinung trat. Und man stellt zahlreiche Parallelen zu Minards Figuren fest: Auch Lü Dongbin war als Mensch ein Aussteiger, der sich in die Abgeschiedenheit der Berge zurückgezogen hatte, um dort dem Weg des Tao zu folgen, sich einem intensiven körperlichen und mentalen Training zu unterziehen und damit den Weg zur Erleuchtung zu finden. Seine Popularität verdankt er einerseits dem Verzicht auf die höhere Form der Unsterblichkeit – er zog es vor, unter den Menschen zu bleiben und ihnen auf ihrem Weg zur Erkenntnis behilflich zu sein –, aber auch seinem Humor: Wegen seines besonderen Hangs zu Jux und Tollerei werden Lü Dongbins Eingriffe für die verblendeten Erdbewohner oft zur Farce. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Figur Vorbild für Minards Dongbin ist und dass wir es hier mit einem der acht Unsterblichen aus dem chinesischen Volksmythos zu tun haben, der sich – zur Frau gewandelt – als nonnenhafter Wollhaufen ins Buch verirrt hat, um die Protagonistin zu retten. Doch wovor eigentlich? Vor einem abendländischen Rationalismus, der mental in der Sackgasse gelandet ist? Und womit? Mit fernöstlicher Spiritualität?
Minards Aussteigerin scheint von spirituellen Ansätzen nicht viel zu halten. Dass sie für die christlichen Säulenheiligen und ihr bizarres Eremitentum nur Spott übrig hat, mag kaum verwundern. Aber auch die fernöstlichen Praktiken eines Yoga, Tai-Chi oder Zen, die philosophische Tradition des Taoismus also, die in der westlichen Welt schon lange bemüht wird, um den spirituellen Kollaps ein wenig abzufedern, greifen bei ihr nicht recht. Atem und Achtsamkeit – die Schlüssel fernöstlicher Meditationspraxis – werden bei ihr zum Problem:
L’attention est une capacité de l’esprit à se rendre disponible, à rassembler ses forces et à les mobiliser pour résoudre le problème qui se présente. Mais que se passe-t-il quand l’attention ne se concentre sur aucun problème? Quand elle s’occupe de la respiration devient-elle un problème? (Übersetzung)
Wie schafft man es also, einen ständig in Bewegung begriffenen Geist zu beruhigen und zu sich selbst zu finden, wenn auch die meditative Praxis versagt? Dongbin wird sich hier als unkonventioneller „guide“ erweisen. Nach sorgfältig arrangierten Vorbereitungen und einer orgiastischen Pfirsichschlacht wird sie mit Minards Aussteigerin – didaktisch raffiniert – auf einer Slackline landen und sie dabei in etwa mit folgender Problemstellung konfrontieren: Ist der reale Abgrund die letzte mentale Herausforderung, die noch bleibt, wenn jeder spirituelle Überbau wegfällt?
Blaise Pascal hat genau diese Herausforderung vor 350 Jahren schon einmal dokumentiert, um zu zeigen, was von unserer mickrigen Ratio im Ernstfall noch übrig bleibt:
Le plus grand philosophe du monde, sur une planche plus large qu’il ne faut, s’il y a au-dessous un précipice, quoique sa raison le convainque de sa sûreté, son imagination prévaudra. Plusieurs n’en sauraient soutenir la pensée sans pâlir et suer. (Übersetzung)
Mit seinem Frontalangriff auf die menschliche Vernunft bereitete Pascal im 17. Jahrhundert noch der strengen Religiosität der Gegenreformation das Terrain. Heute haben sich die Vorzeichen gewendet und Religion ist gegenüber der Vernunft wieder klar in die Defensive geraten. Wenn also jede transzendente Absicherung entfällt, dann muss der Abgrund zum reinen Selbststudium werden: „Le vide est une étude personnelle“, erkennt auch die Protagonistin.
Eine besondere Stärke von Céline Minards Roman liegt in diesen ungewöhnlichen Reflexionen, die bei ihr ganz im Stil der High-tech-Röhre stets fest im physischen Raum verankert bleiben. Und sie liegt vor allem auch in der Originalität ihrer literarischen Montagen, die ein reizvolles Gegengewicht zur gedanklichen Schwere des Ganzen bilden. Minard verschränkt Welten, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie hat offensichtlich großen Spaß daran, eine Figur aus den Tiefen des vorrationalen Mythos über Kontinente und Kulturen hinweg zum Leben zu erwecken und sie ihr ironisches Spiel treiben zu lassen mit einer modernen Sinnsuchenden. Dongbins Exzentrik entfaltet dabei eine ebenso befreiende Wirkung wie die gleichgültige Natur, die die beiden Frauen umgibt.
Fallstricke der Übersetzung
Die deutsche Übersetzung von Nathalie Mälzer beeindruckt vor allem in den konkreten und technischen Passagen, also überall dort wo es um Fauna, Flora und Geologie geht, bis hin zum Alpinismus und den detailreich beschriebenen Klettertechniken der Protagonistin. Im Bereich der philosophischen Reflexionen dagegen fällt sie stark ab. Besonders ärgerlich ist ein schon früh unterlaufener Übersetzungsfehler zum Spannungsfeld von „Versprechen“ und „Drohung“. Aus der Frage: « La menace pourrait-elle être une contrainte forte et la promesse une contrainte douce ? » („Könnte die Drohung eine starke Einschränkung sein und das Versprechen eine sanfte?“, meine Übers.) macht Mälzer: „Könnte die Drohung eine starke Einschränkung sein und zugleich das Versprechen einer sanften?“. Die Aussage wird in der falschen Übersetzung unbrauchbar und erschwert es dem Leser, in einen Gedankengang, der auch weiterhin im Text eine Rolle spielen wird, hineinzufinden, ja vielleicht sogar, sich überhaupt auf ihn einzulassen. Auch im letzten Drittel des Romans tendiert die Übersetzung immer wieder zur Abstraktion, wo der Text meinem Empfinden nach viel konkreter aufzufassen ist. Zunächst rein praktische „Experimente“ auf der Slackline werden bei Mälzer schon zu „Erfahrungen“ und das bloße „Überqueren“ des Bands zu einer schon leicht metaphysisch angehauchten „Überwindung des Raums“. Ein Dreh-und Angelpunkt des Romans, nämlich das Problem, ob sich existenzielle Fragen aus der Empirie heraus beantworten lassen, wird dadurch verwässert.
Das deutsche Lesepublikum wird vermutlich überrascht sein von diesem Roman, zumal der Matthes & Seitz Verlag sichtlich bemüht war, ihn einer bestimmten Erwartungshaltung anzupassen. Auf dem subtil gestalteten Cover ranken sich Umrisse zangenartiger Pflanzen, die auch Tiere sein könnten. Durch changierende Grüntöne hindurch gewähren sie fast unmerklich – einer optischen Täuschung gleich – Durchblick auf ein wildes, schneebedecktes Gebirgsmassiv. Dagegen ist das im Rivages-Verlag publizierte französische Originalcover denkbar nüchtern in einfarbigem Lila gehalten und trägt einen rosa Titel. Bedauerlich ist nun aber folgendes: Der Klappentext der deutschen Übersetzung spricht von einer „Hütte“ (was falsch ist) an einem „Berghang in den Alpen“ (wofür der Text nirgends einen Beleg liefert), wo das französische Pendant von Anfang an das „refuge high-tech“ ins Spiel bringt. Die ganze Aufmachung des Originals stellt also durchaus die moderne Komponente des methodischen Experiments im natürlichen Umfeld in den Vordergrund, während die deutsche Ausgabe offensichtlich vor allem den romantischen Nerv deutschsprachiger Leser*innen zu treffen sucht. Aber der Zweck heiligt bekanntlich die Mittel. Wenn es dem Verlag damit gelungen ist, diesem außergewöhnlichen Buch auch diesseits des Rheins ein breiteres Publikum zu erschließen und die Vorstellung davon, was Nature-Writing alles sein kann, auszuweiten, ist das erfreulich. Dennoch bleibt der Umstand, dass ein Verlag seinen Lesern offensichtlich so wenig zutraut, ein wenig ärgerlich.
Céline Minard: Das große Spiel
Deutsch von Nathalie Mälzer / Matthes & Seitz Berlin 2018 / 192 Seiten / ISBN: 978-3957575265
Französisch / Editions Rivages 2016 / 192 Seiten / ISBN: 978-2743637507
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