Bouvard & Pécuchet

Archäologien des Lesens

Schlagwort: Nationalismus

Kohlfurt calling

Deutschland, Polen, sogar Frankreich, die Völkerschaften auf dem Balkan sowieso, der gesamte Kontinent war dem Briten, der nun in Kohlfurt ausharrte, stets unheimlich geblieben. Der Kontinent, das war dieses undurchdringliche Gewirr von Ethnien, Sprachen, Kulturen mit selten dauerhaften Grenzen. Ein riesiges pulsierendes Durcheinander sowie ein Pulverfass. Konnten die Europäer, die Menschen jenseits des Ärmelkanals, nicht einfach zu Hause bleiben und die Türen von innen verriegeln? Der Welt wären die meisten ihrer Kriege erspart geblieben. Obendrein diese kulinarischen Eigentümlichkeiten in Friedenszeiten: abscheuliches Weichgetier in den Töpfen Frankreichs, offenbar unerreicht köstliches Gebäck in Wien, saurer Braten im Rheinland, ganze Schweinsköpfe und subtile Sülzen. Alles zu viel, zu vielfältig, wenn auch anregend, vielleicht ingeniös, auf alle Fälle zu konfus für ein Gemüt aus Ipswich. Sollten die Europäer sich doch zerfleischen oder sich eine Hauptstadt und eine Ordnung geben, damit das Vereinigte Königreich, vorzüglich durch Wogen umschlossen und ein wenig ausgesperrt, endlich Ruhe vor den kontinentalen Besessenheiten bekäme. Zwei zänkische Parteien im Unterhaus genügten; mehr Stimmen und Meinungen mochten zwar bereichern, doch beförderten sie auch Unklarheit, Verdruss und nicht selten unerwünschten Wandel. Andererseits gehörte Britannien fraglos und unabänderlich zu Europa und würde ohne den konfus-einfallsreichen Kontinent an sich selbst ersticken.  (Hans Pleschinski, „Wiesenstein“)

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Wenn Schüsse widerhallen

Edurne Portela: El eco de los disparos. Cultura y memoria de la violencia (2016)

Seit Mitte September erhitzt eine provokante Netflix-Werbeaktion die baskischen Gemüter. Mitten in der Altstadt von San Sebastian zeigt ein gigantisches Plakat auf schwarzem Hintergrund den Schriftzug „Yo soooy españooool, españoool, españoooool.“ („Ich bin Spanier, ….“). Die „Spanier“ sind allerdings mit blutroter Farbe durchgestrichen. Gegenstand der umstrittenen Werbung ist die am 12. Oktober angelaufene Netflixserie Fe de etarras1, eine Komödie, die im Jahr 2010 spielt und den nationalen Freudentaumel über den spanischen Fußball WM-Sieg überblendet mit der Darstellung eines Häufchens letzter ETA-Terroristen in der Warteschleife vor dem Befehl zum Losschlagen.

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Im Land der Schweigenden

Fernando Aramburu: Patria (2016)

Mit den Ereignissen des 8. April 2017 – der Auslieferung der letzten Waffen der ETA an die französische Justiz – endet offiziell die Ära des baskischen Terrorismus, der zwischen 1968 und 2010 in Spanien über 800 Gewaltopfer forderte, die meisten davon im Baskenland selbst. Und wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass dieses Finale mit einem beispiellosen literarischen Erfolg einhergeht: Fernando Aramburus Roman Patria wurde seit dem 20. September 2016 über 270.000 Mal verkauft und erscheint im spanischen Verlag Tusquets ein gutes halbes Jahr später bereits in der 16. Auflage.

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Der Eindringling

Vicente Blasco Ibañez: El intruso (1904)

Wenn man Ibon Zubiaur glaubt, der einen spannenden Essay über das Baskenland geschrieben hat, dann entstammt der große Roman Bilbaos der Feder nicht etwa eines Basken sondern eines Valencianers: Am Beispiel des Industrie-Magnaten Pedro Sanchez Morueta und seiner Familie portraitiert Vicente Blasco Ibañez in seinem 1904 veröffentlichten Roman El Intruso („Der Eindringling“) lebendig den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg der industriellen Unternehmerelite Bilbaos im ausgehenden 19. Jahrhundert.

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Wie man Baske wird

Ibon Zubiaur: Wie man Baske wird. Über die Erfindung einer exotischen Nation (2015)

Wir sind seit vielen Jahren hier. Seit dem Mesolithikum, seit siebentausend Jahren besteht das baskische Volk; ebenfalls seit vielen Tausend Jahren spricht dieses Volk euskera, die älteste Sprache Europas.

Juan José Ibarretxe raunte diesen Satz bedeutungsschwanger im Jahr 2009, damals noch Ministerpräsident der Autonomen Region Baskenland. Ich frage mich, ob ich unter diesen Umständen überhaupt Baskin „werden“ könnte und was ich wohl tun müsste, um mich selbst als solche zu „erfinden“.

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Aux origines de la décroissance ist ein interessantes Editionsprojekt aus dem Umfeld von La Décroissance, einer der konsequentesten mir bekannten wachstumskritischen Zeitschriften, die nun schon seit 2004 standhaft durchhält. Drei französischsprachige Verlage, L’écosociété (Québec), L’échappée und Le pas de côté haben sich hier zusammengetan und ein erfolgreiches Dossier der Zeitung zu einer Anthologie ausgeweitet. Vorgestellt werden 50 Pioniere (darunter auch ein paar Pionierinnen) des wachstumskritischen Denkens – von Edward Abbey und Hannah Arendt über Albert Camus und Ivan Illich bis hin zu Henry David Thoreau, Leo Tolstoi und Simone Weil. Den Beiträgen vorangestellt ist jeweils ein markantes Portrait in Radierung, gefolgt von einer Seite mit ausgewählten Zitaten und wichtigen bibliographischen Hinweisen. Den Kern bildet jeweils eine etwa vierseitige pointierte Zusammenfassung von Leben und Bedeutung der vorgestellten Person für das Postwachstumsdenken. Wunderbare Appetithäppchen zum Einstieg ins Thema!

Der Soziologe Stefan Lessenich nähert sich in Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis (Hanser, 2016) dem Thema Postwachstum aus der kapitalismus- und globalisierungskritischen Perspektive sowie aus der Sicht der Nord-Süd-Kritik. Packend geschrieben und zugleich schwer verdaulich ist seine Diagnose der kapitalistischen Zentren der Welt als imperialistische Ausbeutungsgesellschaften, deren Wohlstand, Freiheiten und Lebensstil seit Jahrhunderten durch Auslagerung, durch eine Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten an die Länder des globalen Südens erkauft worden sei. Stabilisiert werde dieses Moment struktureller Gewalt durch das, was er als „Externalisierungshabitus“ bezeichnet: eine systematische Strategie des Ausblendens, des Nicht-wissen-Wollens und sich (notfalls gewaltsamen) Abgrenzens der privilegierten Gesellschaften, in der Lessenich die Prinzipien der Aufklärung selbst pervertiert sieht. Zugleich warnt er eindringlich vor den Folgen des weltgeschichtlichen Bumerang-Effekts, der den globalen Norden schon jetzt mit den Folgewirkungen seines Handelns konfrontiert.

Obwohl in vielen Belangen sicher treffend und aufrüttelnd, wird dieses Buch am schwersten wohl für all diejenigen verdaulich sein, die sich innerhalb der kapitalistischen Zentren selbst an den Rand gedrängt sehen.

Einen fundierten Einblick in das im deutschen Sprachraum bislang noch wenig systematisierte Feld von Degrowth/Postwachstum präsentieren Matthias Schmelzer und Andrea Vetter. Sie forschen in den Bereichen Wirtschaftsgeschichte und Kulturanthropologie und engagieren sich beide im Rahmen des Konzeptwerks neue Ökonomie aktiv zu Postwachstumsthemen. In ihrer Einführung definieren sie ihren Gegenstand sensibel im Spiegel verschiedener europäischer Traditionsstränge (Postwachstum/Degrowth/Décroissance). Sie zeigen ferner auf, wie die unterschiedlichen wachstumskritischen Perspektiven (ökologisch, sozial-ökonomisch, kulturell, kapitalismuskritisch, feministisch, industrialismuskritisch, Süd-Nord) bei aller vordergründigen Disparatheit sinnvoll zusammenlaufen und sich wechselseitig ergänzen können. Die Frage nach den Trägern des Wandels und den notwendigen Transformationsstrategien wird ebenso thematisch wie auch eine abschließende kritische Selbstreflexion, die zentrale Schwachstellen des Konzepts offenlegt und dadurch den Boden bereitet für eine Schärfung des Profils dieses noch jungen Forschungszweigs. Viele der hier im Grabungsfeld „Selbstbegrenzung“ aufgeführten Titel sind mir in dieser hervorragenden Einführung wieder begegnet und lassen sich dadurch in einen übergreifenden Kontext einordnen. Bei der Lektüre dieser Junius-Einführung (2019) wird klar, dass Postwachstum mehr ist als ein Nischenthema für ‚ökisch‘ angehauchte Weltverbesserer.