„Nos esse quasi nanos gigantum umeris insidentes“
…meint Bernhard von Chartres schon im 12. Jahrhundert: „Wir sind wie Zwerge und wir sitzen auf den Schultern von Riesen“. Er schuf damit ein Bild für die Situation von Wissenschaftlern, die als Nachgeborene immer schon über einen besonderen Erkenntnisvorsprung verfügen, weil sie auf all dem aufbauen können (oder müssen), was ihre Vorgänger bereits erschlossen haben. In Bernhards mittelalterlicher Scholastik waren das noch die klassischen Denker der griechischen Antike und ihre lateinischen Interpreten. Der Gedanke selbst ist allerdings zeitlos und er trifft nicht nur auf die Geschichte der Wissenschaften zu, sondern auch auf Sprache und Literatur, vor allem innerhalb von Sprachgemeinschaften mit ihren je eigenen schriftlichen Traditionen. Wer sich näher mit Fragen der Intertextualität befasst, ist immer wieder erstaunt, wie gut B die Literatur von A kannte, wie sehr C zeit seines Lebens von B zehrte, aber auch gegen ihn/sie anschrieb und welche Spuren diese Auseinandersetzungen in ihren Texten hinterlassen. Was sich hier abspielt, ist ein lebendiger Dialog mit oft längst verstorbenen Vorfahren. Ein solcher Dialog kann bewusst oder unbewusst geführt werden, mit dem Leserwissen rechnen oder nicht. Intertextuelle Bezüge machen es möglich, mit Hilfe eines einzigen oder nur ganz weniger Worte an ein kulturelles Vorwissen anzuknüpfen, das Bände füllt. Sie sind eine Form nicht-wörtlichen Schreibens, weil sie dem Text Bedeutungsebenen unterlegen, die er alleine gar nicht abdecken könnte und die sich deshalb auch nicht allen Lesern auf anhieb erschließen. Es spricht für die Qualität eines Textes, wenn er selbst dann noch gut lesbar bleibt. Beziehungsreiches Schreiben kann eine Lektüre aber auch unbequem machen, sie elitär erscheinen lassen und dadurch für einen globalisierten Büchermarkt regelrecht disqualifizieren.
Umso erfreulicher, wenn SchriftstellerInnen, die sich auf einen intensiven Dialog mit der literarischen Überlieferung einlassen, von der kritischen Frage nach der Marktkonformität ihrer Bücher unbeeindruckt bleiben. So z.B. Anne Garréta, (Sphinx, Pas un jour) als sie gefragt wurde, ob sie denn beim Schreiben auch an ihre Leser denke:
Oui, et je dirais même que je ne pense qu’à ça, parce que justement je ne m’occupe pas de mon petit moi quand j’écris. […] Le texte devient un jeu entre moi et le lecteur, jeu que je m’efforce de rendre amusant pour moi et mon lecteur. Quant à la quantité d’intertextes ou d’allusions, je pense que c‘est presque inéluctable dès qu’on commence à écrire. Il n’y a que les gens qui croient qu’on écrit spontanément, naïvement, comme on se viderait les tripes… Penser qu’il n’y a rien avant, c’est se condamner éternellement à ce qu’il n’y ait rien après. Tout d’abord nous n’inventons pas la langue, la langue, la littérature nous précèdent. Elle existera encore après nous (peut-être…), et il faut faire avec. L’idée d’une autofondation intime du sujet qui se met à raconter et à écrire “moi je” est une pure aberration. Quand on se sert de la langue, elle a un passé et aussi, on peut l’espérer, un avenir, même médiocre. Refuser le passé de la littérature et de la langue , c’est refuser d’être en dette et donc mépriser nécessairement celui qui vient après, le lecteur.1 (Übersetzung)
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