Anne Garréta: Sphinx (1986)

Können wir Intersubjektivität jenseits der Kategorien von männlich und weiblich denken? Ist es möglich, jenseits des binären Geschlechterverständnisses, das unser Leben bis in seine leisesten Manifestationen hinein dominiert, zu lieben und zu schreiben? Anne Garréta war nicht nur ihrer Zeit sondern auch unserer Gegenwart weit voraus, als sie diesen Versuch 1986 mit ihrem ersten Roman Sphinx wagte. Sie selbst war damals 24 Jahre alt und was hier einleitend nach sterilem Experiment klingen mag, ist in Wahrheit eine mitreißende Liebesgeschichte, in der das Geschlecht der beiden Liebenden unbestimmt bleibt.

Doch es wäre zu kurz gegriffen, den Roman auf dieses spektakuläre Moment zu reduzieren, denn Sphinx ist auch ein Buch, das Seelenabgründe ausleuchtet. Die literarische Tradition Frankreichs hat seit Jahrhunderten ein Faible für Psychologie. Beim Lesen wird die ganze Wucht dieser Tradition spürbar – die existenziellen Paradoxien Pascals, die Verzweiflung der Figuren Racines, das lyrische Erbe der postromantischen poètes maudits wie Baudelaire, Rimbaud oder Lautréamont. Bei aller Belesenheit, die man der damals sehr jungen Autorin erstaunt zuerkennt – Sphinx wirkt als Text weniger gelehrt als tief empfunden und erlebt.

Nicht allzu viel lässt sich in den Tiefen des world wide web über die Autorin Anne Garréta ausfindig machen. Sie war Absolventin der berühmten Pariser Ecole Normale Supérieure. Nach Studium und Promotion an der Duke University in North Carolina unterrichtete sie Linguistik in Princeton und seit 1995 an der Université de Rennes. Garréta ist alles andere als eine Vielschreiberin, denn zwischen dem Erscheinen ihrer Bücher liegt oft ein ganzes Jahrzehnt. In einem ungewöhnlich langen Interview aus dem Jahr 2000 begegnet man einer Person von durchdringendem Intellekt und einer ebenfalls sehr französischen Renitenz gegenüber den Bedürfnissen literarischen Massengeschmacks. Im gleichen Jahr fand Garréta als bislang einzige Frau Aufnahme in den 1960 gegründeten Autorenkreis OuLiPo – Werkstatt für potenzielle Literatur –, der sich der Maxime der kreativen Beschränkung verschrieben hat. Oulipiens unterwerfen sich freiwillig bestimmten linguistischen Zwängen. Durch gezieltes Aussparen bekannter Formen sollen neue, bislang marginalisierte Darstellungsvarianten erschlossen werden. Garréta entspricht dieser Forderung schon in ihrem Debutroman, indem sie sämtliche grammatikalischen Erscheinungen von männlich und weiblich in ihrem Text umgeht. Sie nutzt Sprache, um Sprache und die durch sie transportierten Konzepte – die Art und Weise, wie wir über Liebe sprechen – zu subvertieren.

Worum geht es in Sphinx? Das erzählende Ich – anfang zwanzig – steckt in einer existenziellen Krise. Das eingeschlagene Studium der Theologie und der unreflektierte Opportunismus des dort verkehrenden konservativen, gut bürgerlichen und sozial privilegierten Klientels wird ihm immer mehr zur Last. Ein Dozent – Jesuitenpater von zweifelhaftem Ruf – führt das Ich in die schillernde Welt der Pariser Nachtclubs und Diskotheken der 80er ein, wo es durch unheilvollen Zufall an einen Job als DJ(ane) im Apocryphe gerät. Es folgen Wochen unsteten Treibens durch das Nachtleben. Die jobbedingte Bekanntheit verschafft Zugang zu den Kulissen der einschlägigen Etablissements. Im Eden begegnet es erstmals A***, Star einer großen Tanzrevue, 10 Jahre älter, afrikanische Wurzeln, unstet im Liebesleben und oberflächlich in den Interessen – in fast allen Eigenschaften also ganz anders als das Ich. Die Erzählung folgt nun den klassischen Stadien einer Liebeshandlung: Was freundschaftlich beginnt, wächst sich beim Ich zu einer stark körperfokussierten Leidenschaft aus. Es folgt die Phase des Werbens, dem von A*** – aus Bindungsangst oder im Wissen um die problematische Verschiedenheit – nicht so leicht stattgegeben wird. Zu Testzwecken unternehmen die beiden eine Reise nach München. Schließlich findet man doch zueinander und A*** zieht sogar in Ichs Wohnung. Es folgen weitere Reisen – nach New York, der Heimat von A***s Familie, wo die beiden die unbeschwerteste Zeit ihrer Beziehung erleben, später in europäische Metropolen: Florenz, Rom, Berlin, London. Die Liaison hat hier jedoch ihren Zenith schon überschritten: zu groß sind die Differenzen, als dass das Glück überdauern könnte. Die schmerzliche Trennung geht der großen Katastrophe im Grunde schon voraus. Doch mit dem Ende der Beziehung ist der Roman längst noch nicht an sein Ende gekommen.

Sphinx ist ein schönes Beispiel für die verschlungenen Pfade, die das Geschick von Literatur bisweilen nimmt. In Frankreich insgesamt wenig beachtet, erlebte das Buch erst 2015 – also 30 Jahre nach Erstpublikation – eine Renaissance in der amerikanischen Übersetzung von Emma Ramadan und sorgte jenseits des Ozeans für Furore. Spät hatten die amerikanischen Gender-, LGBT- und Queer-Diskurse hier einen „landmark text“ entdeckt, der die amerikanische Leserschaft offenbar dazu bewegen konnte, den nicht ganz leicht verdaulichen, sehr französischen Psychokram gleich noch mit zu schlucken. In der englischen Übersetzung hat Karen Nölle, Verlegerin der kleinen aber feinen Edition Fünf, den Roman dann entdeckt und ihn erfreulicherweise dem deutschen Sprachraum erschlossen.

Im Mai 2017 waren Karen Nölle und Alexandra Baisch zu Gast auf einer Veranstaltung des Münchner Übersetzerforums, wo Baisch Einblicke in das Abenteuer des Garréta-Übersetzens gab. Ein besonderes sprachliches Problem bei der Übertragung von Sphinx, so Baisch, sei vor allem der Umgang mit den Possessivbegleitern gewesen, da ihr Genus im Deutschen doppelt markiert ist und sie dadurch im Gegensatz zum Französischen nicht nur auf das Objekt verweisen, sondern auch das Geschlecht des Subjekts verraten. Zitiert sei hier eine besonders dichte Passage – das Aufflammen der Leidenschaft beim Ich:

Je me retournais sur mon lit comme on s’effondre sur un corps trop rageusement étreint. Le souvenir de son parfum, l’empreinte résiduelle, à peine sensible, de son épaule appuyée ce matin contre la mienne tandis que nous parlions me torturaient. Je sentais comme le fantôme de sa présence contre moi ; sa main, un instant posée sur mon visage, sa cuisse que le peu de place dont nous disposions pour nous asseoir avait amenée contre la mienne. J’avais la sensation dans ma chair du contact de ses membres alors qu’ils n’étaient plus là pour la provoquer ; l’effet demeurait, longtemps après que la cause qui l’avait suscité avait disparu, et d’une intensité incommensurable à son origine.

In der Übersetzung von Alexandra Baisch:

Ich warf mich im Bett von einer Seite auf die andere, wie auf einen Körper, an den man sich in letzter Verzweiflung krallt. Mich peinigten die Erinnerung an A***s Duft, der verbliebene, kaum noch spürbare Druck der Schulter, als wir uns am Morgen beim Reden aneinandergelehnt hatten; der Nachhall von A***s Nähe an meinem Körper, die Hand, die einen Moment lang an meinem Gesicht gelegen hatte, der Schenkel, der sich auf dem engen Raum, den wir zum Sitzen hatten, an meinen gepresst hatte. Ich meinte, diese Körperteile auf mir zu spüren, obwohl sie doch gar nicht mehr da waren; die Wirkung hielt noch lange an, nachdem ihre Ursache verschwunden war, und mit unveränderter Intensität.

Gerade in dieser sinnlich aufgeladenen Schilderung erotischen Phantomschmerzes hätte man aufgrund der o.g. sprachlichen Einschränkungen eine ausgeprägtere Distanziertheit und Anonymität der deutschen Fassung erwartet. Baisch kompensiert den notwendigen Verzicht auf jedes „sein“ oder „ihr“ aber durch geschicktes Abwechseln von Eigennamen (bzw. Acronym) und bestimmtem Artikel, was dem Text unwillkürlich ein reizvolles, nicht unpassendes Spannungsmoment von Nähe und Distanz verleiht, das im Original gar nicht vorgesehen ist.

Zum Interessantesten an der Sphinx-Lektüre gehören aber sicher die Ambivalenzen der Geschlechteridentifikation und Garrétas Spiel damit, das uns die Wirkungsmacht kulturell konstruierter Körper (gender) zu Bewusstsein bringt. Wer versucht ist, sich festzulegen und den beiden Protagonist*innen jeweils ein eindeutiges Geschlecht zuzuschreiben, erlebt sich selbst in dieser diskursiven Falle, denn die möglichen Identifikationsangebote sind stets prekär und loten nach beiden Seiten die Grenzen des noch Glaubwürdigen aus: Spricht das Theologiestudium nicht für einen männlichen ich-Erzähler? Andererseits liegt in der Fürsorge für A***s Mutter, die in einem New Yorker Krankenhaus im Sterben liegt, doch auch ein sehr weiblicher Zug… Oder steckt hinter der Schwärmerei für die barocken figurativen Exzesse der Münchner Asamkirche, durch die das erzählende Ich begeistert führt, nicht vielmehr eine spezifisch schwule Sensibilität? Letzteres mag zu der Vermutung verleiten, dass es sich auch bei A*** um einen Mann handelt. Der müsste dann aber im Bereich des Transidenten verortet werden, denn in Berlin und London bereitet ihm (ihr?) „das Flanieren durch die Straßen, von Café zu Café, von Modegeschäft zu Schmuckboutique“ ein ganz besonderes Vergnügen.

Der Zeitpunkt, sich als Leser*in der eigenen Klischeeverhaftung zu schämen, mag früher oder später eintreten, in jedem Fall haben wir aber Gelegenheit, die Dinge wieder zurechtzurücken und uns dessen bewusst zu werden, dass es in dieser Liebesgeschichte um alle möglichen Gegensätze geht – der Rasse, des sozialen Status, des Intellekts –, nur nicht um den von männlich und weiblich. Dies ist jedoch eine Leerstelle, die der Sprache – nicht weniger als dem Denken – mühsam abgerungen werden muss. Alexandra Baisch ist hier als Übersetzerin virtuos. Am wenigsten Schwierigkeiten hat vermutlich, wer sich die beiden Liebenden möglichst androgyn vorstellt. Die provozierende Gleichgültigkeit des Textes gegenüber allen Geschlechterstereotypen ist dann nicht mehr verwirrend, sondern kann als befreiende Bereicherung erfahren werden.

Doch Sphinx erschöpft sich nicht in diesem Experiment, denn es ist – was die Psychologie der Liebe betrifft – zugleich ein eminent französischer Text. Anne Garréta ist in der literarischen Tradition Frankreichs nicht die erste, die die schmerzliche Erfahrung der Unerreichbarkeit des Du, die Unmöglichkeit, zum Kern des geliebten Wesens vorzudringen, zum Thema macht. Die endlosen Zweifel und Projektionen, die sich aus dieser Verlusterfahrung speisen und das Ich immer wieder auf sich selbst zurückwerfen, nehmen in Sphinx einen breiten Raum ein. Man findet diese Gedanken schon bei Stendhal oder Proust, welche ihrerseits aus der theologischen Tradition des 17. Jahrhunderts schöpfen. Blaise Pascal war es hier, der nach gründlicher Selbstbeobachtung zu dem Schluss gekommen war, dass der Mensch im Grunde immer ‚neben sich‘ steht: grandios und elend zugleich ist er unfähig zur Selbsterkenntnis. Der Blick in den eigenen Abgrund stürzt ihn in existenzielle Langeweile und Angst – Seelenzustände, denen er nur durch zweierlei Strategien entrinnen kann: entweder er lenkt sich ab, indem er weltlichen Zerstreuungen folgt (die ihm allerdings schon bald wieder schal werden) oder er erkennt seine Erlösungsbedürftigkeit und wendet sich Gott und dem Glauben zu. Garréta knüpft in Sphinx an diese Tradition an, gibt ihr aber eine moderne Wendung:

So schwankte ich zwischen erzwungener Ruhe und unbezwingbarer Angst und verwirrte damit alle, die mich oft und lange genug umgaben. Wie sollte ich erklären, was scheinbar so absurd war : dass es möglich war, Gefühle zu haben, unter denen man litt, von denen man sich aber nicht lösen und die man nicht verschmähen konnte? Sie allein rissen mich aus der sinnlosen Grausamkeit meines zurückgezogenen Lebens zwischen Gott, den ich ablehnte, und der Langeweile, aus der ich nicht mehr herauszutreten vermochte, wie ich es so oft getan hatte, wenn ich mich irgendwelchen Oberflächlichkeiten hingab. Diese Gefühle waren das Einzige, das mich davor bewahrte, mich ganz einem sinnlosen, falschen Leben zu überlassen: Dem der nicht enden wollenden Unterhaltung. (Original)

Was bleibt, wenn der betäubende Lärm der Partygesellschaft als Heilmittel ebenso versagt wie Gott? Doch nur, das Begehren selbst in seiner schmerzlichen Schönheit zu feiern. Genau das ist Anne Garrétas Sphinx auch: die sprachliche Feier der Gottheit eines Begehrens, das – wenn überhaupt – erst im Tod zur Ruhe kommt.


Anne Garréta: Sphinx

Deutsch von Alexandra Baisch / Edition Fünf 2016 / 184 Seiten / ISBN: 978-3-942374-83-5

Französisch / Grasset 1986 / 229 Seiten / ISBN: 978-2246365617