Baptiste Morizot:

  • Sur la piste animale, 2018 (dt. Philosophie der Wildnis oder Die Kunst, vom Weg abzukommen)
  • Manières d’être vivant, 2020 (noch nicht übersetzt)

Der 1990 in den USA erschienene Kinofilm Der mit dem Wolf tanzt mit Kevin Kostner in der Hauptrolle, der in Deutschland zum meistgespielten Film des Jahres avancierte, lieferte die lange überfällige Korrektur eines primitiven, von alter Kolonial-Mentalität durchdrungenen Klischees von den Indianern. Dreißig Jahre später, da die Umweltausbeutung und -zerstörung nahezu unaufhaltsam voranschreitet, beginnt man sich nun zu fragen, ob eine solche Korrektur nicht auch in Bezug auf unsere ebenso kolonial geprägten Vorstellungen von Fauna und Flora angebracht wäre. Dieses Anliegen verfolgt Baptiste Morizot in seinen Büchern.

Er unterrichtet Philosophie an der Universität Aix-Marseille, sein Werk trägt aber auch die Handschrift des Abenteurers, Naturforschers, Sprachwissenschaftlers und Schriftstellers. Gerade diese Offenheit macht ihn manchem Rezensenten suspekt.1 Seine Bücher sind, wenn auch nicht durchweg einfach, so doch spannend zu lesen:

Stellen Sie sich folgende Geschichte vor: Eine Gattung schert aus. Sie erklärt, dass die zehn Millionen anderen Gattungen auf der Erde, ihre Verwandten, bloße „Natur“ sind. Das heißt: nicht Wesen sondern Dinge, nicht Handelnde sondern Dekor, mühelos zugängliche Ressourcen. Eine Gattung auf der einen Seite, zehn Millionen auf der anderen, und doch nur eine Familie, nur eine Welt. Diese Fiktion ist unser Erbe. Die ihr inhärente Gewalt hat zu tiefgreifenden ökologischen Störungen geführt. Deshalb müssen wir eine kulturelle Schlacht schlagen in der Frage der Bedeutung, die es dem Lebendigen wieder zurückzugeben gilt. (meine Übers.)

Morizot diagnostiziert der westlichen Welt eine „Krise der Sensibilität“, einen eklatanten Mangel an Einfühlungsvermögen in ihre nicht anthropomorphen Mitlebewesen und er zielt darauf ab, seinen Lesern Lust zu machen, sich diese Sensibilität anzueignen, sich auf ein neues Sehen einzulassen, „Spurenleserinnen“ und „Diplomaten“, im umfassenden Geflecht des Lebendigen zu werden, in dem der Mensch selbst nur einen verschwindend geringen Teil ausmacht.  Dabei geht es ihm weniger um fachwissenschaftliche Auseinandersetzungen als vielmehr um einen Perspektivwandel, denn die Veränderung, die er sucht, greift tief ein in die Mentalität des abendländisch geprägten Menschen und die „Fiktionen“, auf denen sein problematisches Selbstverständnis seit Jahrhunderten gründet.

Der Philosoph

Morizot illustriert die Denkvoraussetzungen der westlichen Zivilisation, die seit Platon über die jüdisch-christliche Tradition bis zu Descartes und Kant der Vorstellung von klaren Hierarchien unterliegen: die Vernunft steht hier über dem Gefühl und den Leidenschaften, die Kultur über der Natur, der Mensch über dem Tier. In dieser Tradition gilt es, den jeweils als minderwertig angesehenen Pol zu domestizieren und zu unterwerfen, so wie schon Platon in seinem Bild vom Seelengespann das schwarze Pferd der Leidenschaften durch den Kutscher niederringen ließ zu Gunsten des weißen, das nach der Vernunft strebt. In allen Formen der philosophischen Ethik, die sich aus dieser Tradition ableiten, gilt es, die unbändigen Leidenschaften der Seele durch vernünftige Reflexion zu überwinden, ein Anspruch, der – wie wir seit Freud wissen – nur um den Preis massiver Verdrängungsleistungen zu haben ist.

In Kapitel drei von Manières d’être vivant entwirft Morizot statt dessen eine alternative Ethik, in der das Dominanz- durch ein diplomatisches Koexistenzverhältnis ersetzt wird, durch eine geschickte Strategie, die darin besteht, die direkte Konfrontation mit den Leidenschaften zu meiden, ihnen auszuweichen, sie umzulenken in alternative Bahnen und ihnen dadurch ihre Wucht zu nehmen: „mit seinen wilden Tieren zusammenleben“ („cohabiter avec ses fauves“) – nennt er dies. Er schöpft hier aus einer philosophischen Tradition, die in Frankreich mit Montaigne ihren Anfang nahm und die Spinoza später zu seiner Ethik vertiefte. Elegant wechselt Morizot nun die Ebenen, um das, was zunächst als Bild für inneres Erleben diente, nach außen zu spiegeln in eine Art politische Ökologie: Die im ethischen Kontext entwickelte Idee des diplomatischen Umgangs mit dem eigenen Innenleben, den Gefühlen und Leidenschaften – für die das Tier metaphorisch stand –  wird nach außen projiziert auf den tatsächlichen Umgang des Menschen mit seinen Mitlebewesen.

Dies beginnt schon mit der Sprache. Morizot wird nicht müde, daran zu erinnern, dass Sprache Wirklichkeit formt und wesentlich mitgestaltet. Um die in der abendländischen Tradition übersteigerte Differenz zwischen Mensch und Tier ein wenig einzuebnen, kann für ihn schon das kleine Wörtchen „anders“ eine „grammatikalische Revolution“ bewirken: „Der Mensch und die anderen Lebewesen“ („L’humain et les autres animaux“): „Ein kleines Adjektiv, das es auf elegante Weise schafft, die Welt neu zu kartografieren: Es ist ganz allein im Stande, eine Logik der Differenz und der gemeinsamen Zugehörigkeit zugleich zum Ausdruck zu bringen“ (meine Übers.). 

Der Naturwissenschaftler

Gerade das Argument der gemeinsamen Abstammung von Mensch und Tier als Grundlage für die Entwicklung eines Einfühlungsvermögens in unsere Mitlebewesen ist es, was Morizot uns aus der Perspektive der Naturwissenschaften nahzubringen versucht. Die tägliche Geste des Salzens von Speisen als ein sinnfälliges Relikt unserer Millionen Jahre zurückreichenden Verwandtschaft mit den Lebewesen des Meeres. Dan Piraros Cartoon Devolution als Sinnbild der Gewalt, die wir unseren Verwandten antun, indem wir die Meere, aus denen wir selbst hervorgegangen sind, achtlos verschmutzen. All dies vor dem Hintergrund einer Verschiebung der Erkenntnisse in der Evolutionsbiologie, die sich im Laufe des 20. Jahrhundert vollzog: weg von der Überzeugung einer zielgerichteten Höherentwicklung der Lebewesen zum Menschen als Ziel – hin zu Steven Jay Goulds Erkenntnis, der angebliche Fortschritt sei nicht gerichtet, sondern zufällig und ungerichtet, was mit einschließt, dass Lebensformen von geringer Komplexität auch andere Entwicklungen nehmen können als die hin zum Menschen. Jede Art oder Gattung kann demnach potenzieller Vorfahre von Lebensformen sein, die auch vernunftbegabt sind und möglicherweise sogar den Keim intelligenterer Formen des Zusammenlebens in sich tragen als die menschliche. Doch dafür braucht es Zeit. Sehr viel Zeit. Erschreckend führt Morizot uns dagegen die Geschwindigkeit vor Augen, mit der wir heute Arten zerstören und damit ganze Bibliotheken eines Evolutionswissens, das sich über Jahrmillionen hinweg in unendlicher Langsamkeit herausgebildet hat.

Abenteuer, Poesie, Spiritualität

Wer ein Gespür für die Faszination des Lebens in seiner Vielfalt entwickeln will, kann nicht bei der Theorie stehenbleiben. Er muss „Spurenleser“ werden, sich „einwalden“2 auf der Suche nach den anderen Lebewesen, mit denen er sein Habitat immer schon teilt. Er muss Formen finden, mit ihnen in Kontakt zu treten, die weder ausbeuterisch sind, noch geleitet von wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse (was ja meist ebenso in die Ausbeutung führt).

Vor allem selten gewordene wilde Tiere reizen Morizot und so nehmen die Kapitel mit Schilderungen von Bärensichtungen im Yellowstone Nationalpark, mit Wolfsbeobachtungen und -begegnungen im militärischen Sperrgebiet des Plateaus von Canjuers oder die beschwerliche Suche nach dem Schneeleoparten in den Bergen des Kasachstan in beiden Büchern einen breiten Raum ein. Die Lust am Abenteuer spielt hier eine Rolle und damit verbunden auch die Herausforderung, die Angst in der Begegnung mit dem wilden Tier auszuhalten. Es geht ihm bei der Tierbeobachtung aber vor allem um den Wunsch, sich im Spurenlesen empathisch in das Tier hineinzuversetzen und mit ihm zu fühlen, um sich der Vielschichtigkeit der Bedeutung seiner Verhaltensweisen bewusst zu werden, um etwa Tierlauten in ihrer „intimen Andersartigkeit“, ihrer evolutionsgeschichtlich bedingten Komplexität  und dem Erfindungsreichtum in ihrem Gebrauch gerecht zu werden. Solche Beobachtungen sind nicht immer rational aufzulösen. Sie dürfen als andere Formen von Intelligenz, aber auch als geheimnisvolle Rätsel erfahren werden. Die intensive Naturbeobachtung, ja Versenkung des Spurenlesers ist bei ihm nicht zuletzt auch eine spirituelle Praxis,

eine Transzendenz seltenen Typs: Als werde man aus sich selbst hinausgeschleudert, fast schon brutal, mithilfe der Ferngläser aus dem Reich des Gewohnten verstoßen, weit weg von sich selbst und von seinesgleichen. Das Fernglas ist ein Instrument für ein spirituelles Erlebnis: Der Falkenblick schärft sich mit solcher Intensität, dass weit weg von uns selbst eine auf den anderen konzentrierte Aufmerksamkeit geschaffen wird und eine kopflose Verfügbarkeit, in der das Ego fast gegen den eigenen Willen verschwindet.

Die Auflösung des Ich im Einswerden mit der umgebenden Welt des Lebendigen ist das Ziel aller fernöstlichen Meditationspraktiken. Ein Gespür für eben diese Verbindung mit allem Lebendigen zu entwickeln ist auch Morizots Fluchtpunkt: ein Sich-Versenken in die Naturbegegnung, das meditative Züge trägt und dadurch die Qualität und den Anspruch hat, die uns bekannten, einseitig rationalen Formen von Welt- und Selbsterfassung zu überschreiten in einer Integration von Körper, Sinnen und Imagination. Diese treten bei ihm nicht in Widerstreit zu Vernunft und Wissenschaft, sondern verschmelzen mit ihnen zu ganzheitlicheren Formen von Erkenntnis.

Diplomat des Lebendigen

Die Fähigkeit, sich in das Verhalten eines wilden Tiers einzudenken bzw. einzufühlen kann dazu beitragen, die Krise der direkten Konfrontation mit ihm zu entschärfen und sie anderen, gewaltfreien Lösungen zuführen. In der realen Begegnung des Abenteurers nicht weniger als in der Forschung und der Politik bedarf es solcher Pioniere, die „die Waffen am Gürtel schlummern lassen“, aber doch äußerst wachsam sind. Solche Formen von Diplomatie wünscht Morizot sich etwa im Interessenskonflikt zwischen Naturschützern und Viehzüchtern wenn es um die Frage der Wiederansiedlung von Wölfen geht. Wer bei der Beobachtung eines Wolfsangriffs auf eine Schafherde einmal das komplexe Spannungsfeld zwischen Wolf, Hütehund und Schaf beobachtet hat, wem hier die enge Verwandtschaft von Angreifer und Verteidiger bewusst geworden ist und wer erkennt, dass das Schaf in dieser Begegnung vor allem Opfer seiner Domestizierung durch den Menschen und seiner Haltung in Großherden ist, wird vielleicht anfangen, über Praktiken nachzudenken, die stärker auf ein Miteinander von Wolf, Schaf und der Landschaftspflege durch Weidehaltung abzielen:

Die Herausforderung besteht darin, eine Form von Weidewirtschaft zu schützen, die zum Landschaftserhalt beiträgt. Wichtig hierbei ist jedoch, dass diese Form kleinere Herden und eine intensivere Hirtenpräsenz erfordert und somit auch den Hirtenberuf als traditionelles Handwerk der Viehhaltung mehr wertschätzt. Es handelt sich also – und hier taucht nun die entscheidende Gemeinsamkeit auf – um eine Weidehaltung, die besser vereinbar ist mit der Präsenz des Wolfs (denn die Anwesenheit des Hirten und die kleinen Herden tragen massiv zu einer Dezimierung von Schafriss bei). Was die Landschaft am besten schützt, ist zugleich auch das, was die Schafe am besten vor den Wölfen schützt und geschützte Schafe haben eine weniger reaktive Eindämmungspolitik gegenüber den Wölfen zur Folge. (meine Übers.)

Mit einer Verkleinerung der Herden und dem Rückgriff auf altes Erfahrungswissen sind wir wieder ganz nah an den Prinzipien der Permakultur, die im Bereich der Landwirtschaft kleinere Strukturen und naturnahe Kreisläufe zu etablieren sucht, in denen der Mensch sich stark zurücknimmt, um die meist intelligenteren Kräfte der Natur selbst wirken zu lassen. Morizot würde den Platz des Menschen in einer diplomatischen Selbstintegration in diese Kreisläufe sehen. Tatsächlich beschreibt er die Permakultur als „diplomatische Ethik“, die mehr dem Bedürfnis nach „Wahrnehmung und Information“ entspringt als dem nach „Kontrolle und Beherrschung“. Er bringt sie zudem als Beispiel für eine Praxis, die zutiefst in einem rationalen Erfahrungswissen verankert ist. Und er landet damit zugleich einen Seitenhieb auf den institutionalisierten Wissenschaftsbetrieb, der diese Praktiken geringschätzt und sich stattdessen das Monopol auf legitimes Wissen anmaßt.

Obwohl in Philosophie der Wildnis noch eine Kapiteleinteilung vorliegt, sind beide Bücher eigentlich Sammlungen längerer Essays, die das Thema aus unterschiedlichen Blickwinkeln erfassen. Dieser aus wissenschaftlicher Sicht geradezu unorthodoxe Perspektivreichtum ist bei Morizot Programm. Es gelingt ihm dadurch nicht nur, eine große Bandbreite von Leserinteressen anzusprechen, sondern all diese Ansätze greifen auch noch stimmig ineinander. Sein zentrales Anliegen verliert der Autor nie aus den Augen: „Um den Wolf zu finden, muss man in sich nach Fragen suchen, die man mit dem Wolf gemeinsam hat“.  

Es bleibt zu hoffen, das der Reclam-Verlag bald nachlegt mit der Übersetzung von Manières d’être vivant.

DIESER BEITRAG IST TEIL DES GRABUNGSFELDS SELBSTBEGRENZUNG

Baptiste Morizot: Philosophie der Wildnis oder Die Kunst, vom Weg abzukommen

Deutsch von Ulrich Bossier / Reclam / 191 Seiten / ISBN: 978-3150112199

Baptiste Morizot: Sur la piste animale

Französisch / Actes Sud / 208 Seiten / ISBN: 978-2330092511

Baptiste Morizot: Manières d’être vivant. Enquêtes sur la vie à travers nous

Französisch / Actes Sud / 336 Seiten / ISBN: 978-2330129736

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