Bouvard & Pécuchet

Archäologien des Lesens

Schlagwort: Geschichte und Aufarbeitung

Frankreich gegen Frankreich

Wolfgang Matz: Frankreich gegen Frankreich. Die Schriftsteller zwischen Literatur und Ideologie (2017)

Als sich Anfang 2013 die Sympathisanten der „Ehe für alle“ auf den Straßen von Paris mit den mobilisierten Massen der konservativen „Demo für alle“ konfrontiert sahen und diese Begegnungen sogar in Handgreiflichkeiten ausarteten, wurde wieder einmal sichtbar, wie tief die ideologischen Gräben sind, die die französische Gesellschaft spalten: Hier der Geist der Freiheit in der Tradition von 1789, dort die alteingesessene nationale, katholische Rechte. Es war ein fernes, aber nicht minder spürbares Nachbeben dessen, was in der französischen Revolution bereits Ende des 18. Jahrhunderts zum Ausbruch gekommen war und das Land bis heute prägt.

Warum es in den letzten 200 Jahren nahezu unmöglich war, diese beiden Pole zu versöhnen, erklärt Wolfgang Matz in seinem hervorragenden Essay. Vom ausgehenden 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts, also über zwei Weltkriege und deren Vorläufe hinweg, spürt er dem gesellschaftlichen Klima in Frankreich im Spiegel seiner intellektuellen Debatten nach. Dabei setzt er sich mit Texten und teils auch mit Schriftstellern auseinander, die in Deutschland nur wenig bekannt sind.

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„Drôle de guerre“

Der folgende Beitrag ist Teil der auf Bouvard & Pécuchet neu eingerichteten Rubrik „Grabungsfelder„, in der ich mehrere Lektüren in einen breiteren thematischen Zusammenhang  stelle.

Die „Drôle de guerre“ und ihre Folgen

Frankreich zwischen Anpassung und Widerstand (1939-45)

Es ist nicht selbstverständlich, dass der deutsch-französische Freundschaftsvertrag schon seit 1963 Bestand hat, sondern Ergebnis des erklärten Willens beider Länder, nach Jahrhunderten kriegerischer Auseinandersetzungen zu einem gedeihlichen nachbarschaftlichen Verhältnis zu finden, das vorausblicken lässt. Heute hofft man auf die beiden Länder im Zentrum Europas als Motor des Einigungsprozesses. Gerade auch politisch scheint angesichts der aktuellen, oft länderübergreifenden Krisen eine stabile Mitte unverzichtbar: steigende Arbeitslosigkeit, Flüchtlinge, Terror und vielerorts ein gefährlicher gesellschaftlicher Rechtsruck sind akute Probleme, die gemeinsam gelöst werden wollen.

Appelle an nachbarschaftliches Einvernehmen erscheinen umso zwingender, wenn man zurückblickt auf die gemeinsame Geschichte: Zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert überstürzten sich die Konflikte zwischen Deutschland und Frankreich: In nicht weniger als sechs Kriegen fanden mehrere Millionen Angehörige beider Nationen den Tod. Der letzte dieser Kriege kam nicht überraschend und doch wurde er von französischer Seite unterschätzt. Das was als „drôle de guerre“ („komischer Krieg“) zunächst scheinbar harmlos begann, wuchs sich zu einem neuerlichen Weltkrieg aus. Und vielleicht ist es eine böse Ironie der Geschichte, dass führende gesellschaftliche Kreise Frankreichs, des Ursprungslands der Menschen- und Bürgerrechte, sich im Verlauf dieses Krieges von den Interessen Hitlers und der Nationalsozialisten nicht ganz unfreiwillig vereinnahmen ließen.

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Wenn Schüsse widerhallen

Edurne Portela: El eco de los disparos. Cultura y memoria de la violencia (2016)

Seit Mitte September erhitzt eine provokante Netflix-Werbeaktion die baskischen Gemüter. Mitten in der Altstadt von San Sebastian zeigt ein gigantisches Plakat auf schwarzem Hintergrund den Schriftzug „Yo soooy españooool, españoool, españoooool.“ („Ich bin Spanier, ….“). Die „Spanier“ sind allerdings mit blutroter Farbe durchgestrichen. Gegenstand der umstrittenen Werbung ist die am 12. Oktober angelaufene Netflixserie Fe de etarras1, eine Komödie, die im Jahr 2010 spielt und den nationalen Freudentaumel über den spanischen Fußball WM-Sieg überblendet mit der Darstellung eines Häufchens letzter ETA-Terroristen in der Warteschleife vor dem Befehl zum Losschlagen.

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Frankreich reloaded

Nils Minkmar: Das geheime Frankreich. Geschichten aus einem freien Land (2017)

Gerade rechtzeitig zur Buchmesse scheint sich Frankreich – diesmal Ehrengast – wieder ein wenig erholt zu haben. Nach schwierigen Jahren für die französische Wirtschaft mit steigenden Arbeitslosenzahlen, islamistischem Terror, einem bedrohlichen gesellschaftlichen Rechtsruck und unverkennbaren Dekadenzsymptomen der politischen Klasse hofft nun auch Nils Minkmar – Kulturjournalist mit deutsch-französischem Pass – auf Besserung und freut sich im Epilog seines neuen Buches über den mit Emmanuel Macron aufkommenden Rückenwind für Europa.

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Chilenisches Chamäleon

El color del camaleon (Belgien, Chile 2016)

Es erinnert an narrative Verfahren der Traumatherapie, was der belgische Regisseur Andrés Lübbert in diesem Dokumentarfilm mit seinem Vater inszeniert. Die Produktion wurde im Rahmen des 32. Münchner Dok.fest 2017 gezeigt und gilt als einer der Favoriten für den Publikumspreis.

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Im Land der Schweigenden

Fernando Aramburu: Patria (2016)

Mit den Ereignissen des 8. April 2017 – der Auslieferung der letzten Waffen der ETA an die französische Justiz – endet offiziell die Ära des baskischen Terrorismus, der zwischen 1968 und 2010 in Spanien über 800 Gewaltopfer forderte, die meisten davon im Baskenland selbst. Und wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass dieses Finale mit einem beispiellosen literarischen Erfolg einhergeht: Fernando Aramburus Roman Patria wurde seit dem 20. September 2016 über 270.000 Mal verkauft und erscheint im spanischen Verlag Tusquets ein gutes halbes Jahr später bereits in der 16. Auflage.

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Dem Zauberer aufs Dach gestiegen

2006 wurde das neue Thomas-Mann-Haus im Münchner Herzogpark eingeweiht. Ein Nachruf.

„Wir haben einen Blick auf die Poschi geworfen, wo viele Schutthaufen, viel Material herumliegt, wegen starker innerlicher Veränderung“, schrieb Hedwig Pringsheim 1937 an ihre Tochter Katja, die mit ihrer Familie nach einer überstürzten Flucht vor den Nationalsozialisten schon seit vier Jahren im Schweizer Exil lebte. Und nicht nur Katia tat sich zeit ihres Lebens schwer mit dieser „Münchner Barbarei“ – mit Enteignung und Ausbürgerung durch ein Regime, das ihrem Mann das kritische Denken verbieten wollte und den Glanz der jüdischstämmigen Familie Pringsheim, einem der gesellschaftlichen Zentren im München der ersten Jahrhunderthälfte, vernichtete.

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Aux origines de la décroissance ist ein interessantes Editionsprojekt aus dem Umfeld von La Décroissance, einer der konsequentesten mir bekannten wachstumskritischen Zeitschriften, die nun schon seit 2004 standhaft durchhält. Drei französischsprachige Verlage, L’écosociété (Québec), L’échappée und Le pas de côté haben sich hier zusammengetan und ein erfolgreiches Dossier der Zeitung zu einer Anthologie ausgeweitet. Vorgestellt werden 50 Pioniere (darunter auch ein paar Pionierinnen) des wachstumskritischen Denkens – von Edward Abbey und Hannah Arendt über Albert Camus und Ivan Illich bis hin zu Henry David Thoreau, Leo Tolstoi und Simone Weil. Den Beiträgen vorangestellt ist jeweils ein markantes Portrait in Radierung, gefolgt von einer Seite mit ausgewählten Zitaten und wichtigen bibliographischen Hinweisen. Den Kern bildet jeweils eine etwa vierseitige pointierte Zusammenfassung von Leben und Bedeutung der vorgestellten Person für das Postwachstumsdenken. Wunderbare Appetithäppchen zum Einstieg ins Thema!

Der Soziologe Stefan Lessenich nähert sich in Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis (Hanser, 2016) dem Thema Postwachstum aus der kapitalismus- und globalisierungskritischen Perspektive sowie aus der Sicht der Nord-Süd-Kritik. Packend geschrieben und zugleich schwer verdaulich ist seine Diagnose der kapitalistischen Zentren der Welt als imperialistische Ausbeutungsgesellschaften, deren Wohlstand, Freiheiten und Lebensstil seit Jahrhunderten durch Auslagerung, durch eine Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten an die Länder des globalen Südens erkauft worden sei. Stabilisiert werde dieses Moment struktureller Gewalt durch das, was er als „Externalisierungshabitus“ bezeichnet: eine systematische Strategie des Ausblendens, des Nicht-wissen-Wollens und sich (notfalls gewaltsamen) Abgrenzens der privilegierten Gesellschaften, in der Lessenich die Prinzipien der Aufklärung selbst pervertiert sieht. Zugleich warnt er eindringlich vor den Folgen des weltgeschichtlichen Bumerang-Effekts, der den globalen Norden schon jetzt mit den Folgewirkungen seines Handelns konfrontiert.

Obwohl in vielen Belangen sicher treffend und aufrüttelnd, wird dieses Buch am schwersten wohl für all diejenigen verdaulich sein, die sich innerhalb der kapitalistischen Zentren selbst an den Rand gedrängt sehen.

Einen fundierten Einblick in das im deutschen Sprachraum bislang noch wenig systematisierte Feld von Degrowth/Postwachstum präsentieren Matthias Schmelzer und Andrea Vetter. Sie forschen in den Bereichen Wirtschaftsgeschichte und Kulturanthropologie und engagieren sich beide im Rahmen des Konzeptwerks neue Ökonomie aktiv zu Postwachstumsthemen. In ihrer Einführung definieren sie ihren Gegenstand sensibel im Spiegel verschiedener europäischer Traditionsstränge (Postwachstum/Degrowth/Décroissance). Sie zeigen ferner auf, wie die unterschiedlichen wachstumskritischen Perspektiven (ökologisch, sozial-ökonomisch, kulturell, kapitalismuskritisch, feministisch, industrialismuskritisch, Süd-Nord) bei aller vordergründigen Disparatheit sinnvoll zusammenlaufen und sich wechselseitig ergänzen können. Die Frage nach den Trägern des Wandels und den notwendigen Transformationsstrategien wird ebenso thematisch wie auch eine abschließende kritische Selbstreflexion, die zentrale Schwachstellen des Konzepts offenlegt und dadurch den Boden bereitet für eine Schärfung des Profils dieses noch jungen Forschungszweigs. Viele der hier im Grabungsfeld „Selbstbegrenzung“ aufgeführten Titel sind mir in dieser hervorragenden Einführung wieder begegnet und lassen sich dadurch in einen übergreifenden Kontext einordnen. Bei der Lektüre dieser Junius-Einführung (2019) wird klar, dass Postwachstum mehr ist als ein Nischenthema für ‚ökisch‘ angehauchte Weltverbesserer.