Die Frage, ob Kunst nützlich sein kann, soll oder darf, wird in Philosophie und Literaturtheorie seit Jahrhunderten kontrovers diskutiert. Wenn Kant in seiner Kritik der Urteilskraft (1790) in Bezug auf die Schönheit vom „interesselosen Wohlgefallen“ spricht, meint er damit, dass Kunst nicht zweckgebunden sein, nicht funktionalisiert werden darf. Aber ist das wirklich so einfach?

In Marcel Prousts A la recherche du temps perdu gibt es eine berühmte Stelle, an der die Kleidung Mme Swanns beschrieben wird. Das Kleidungsstück ist im Kontext einerseits konkret gemeint, es steht aber auch metaphorisch für ein Kunstwerk, das sich offensichtlich den verschwenderischen Luxus zweckfreier künstlerischer Selbstverausgabung leistet:

Dès son arrivée, je saluais Mme Swann, elle m’arrêtait et me disait: «Good morning» en souriant. Nous faisions quelques pas. Et je comprenais que ces canons selon lesquels elle s’habillait, c’était pour elle-même qu’elle y obéissait, comme à une sagesse supérieure dont elle eût été la grande prêtresse: car s’il lui arrivait qu’ayant trop chaud, elle entr’ouvrît, ou même ôtât, tout à fait et me donnât à porter sa jaquette qu’elle avait cru garder fermée, je découvrais dans la chemisette mille détails d’exécution qui avaient eu grande chance de rester inaperçus comme ces parties d’orchestre auxquelles le compositeur a donné tous ses soins, bien qu’elles ne doivent jamais arriver aux oreilles du public; ou dans les manches de la jaquette pliée sur mon bras je voyais, je regardais longuement, par plaisir ou par amabilité, quelque détail exquis, une bande d’une teinte délicieuse, une satinette mauve habituellement cachée aux yeux de tous, mais aussi délicatement travaillée que les parties extérieures, comme ces sculptures gothiques d’une cathédrale dissimulées au revers d’une balustrade à quatre-vingts pieds de hauteur, aussi parfaites que les bas-reliefs du grand porche, mais que personne n’avait jamais vues avant qu’au hasard d’un voyage, un artiste n’eût obtenu de monter se promener en plein ciel, pour dominer toute la ville, entre les deux tours. (Übersetzung)

(Marcel Proust: „A l’ombre des jeunes filles en fleurs“)

Es geht hier also um virtuose künstlerische oder kunsthandwerkliche Details – sei es das Seidenfutter einer Jacke, ein Satz in einer Orchesterpartie oder eine Skulptur in schwindelnder Höhe einer gotischen Kathedrale – die so versteckt platziert sind, dass sie möglicherweise nie jemand wahrnehmen wird oder im besten Fall nur derjenige entdecken und genießen kann, der über die entsprechende Sensibilität und das notwendige Interesse verfügt. Liegt also – essentialistisch gesprochen – das Wesen künstlerischen Schaffens gerade in der Bereitschaft, oder besser dem Drang zur ästhetischen Selbstverausgabung an die Eigengesetzlichkeit der Kunst und im klaren Bewusstsein dessen, dass man möglicherweise nie, oder nur von wenigen gehört wird? Das würde zugleich bedeuten, dass der Künstler völlig unabhängig ist vom ästhetischen Urteil seiner Umwelt.

Eine solche Position gab es in der Kunsttheorie tatsächlich. Théophile Gautier hat sie im Jahr 1835 im Vorwort seines Romans Mademoiselle de Maupin formuliert. In den folgenden Jahrhunderten wurde sie programmatisch für die Vertreter einer absoluten Kunst im Bereich der Lyrik (die Parnassiens in Frankreich, der Modernismo in Spanien). Der sogenannte „L’art pour l’art“ betrieb einen Kult um die künstlerische Form auf Kosten der Zugänglichkeit des Inhalts und richtete sich damit polemisch gegen das zeitgenössische Bürgertum und dessen kleingeistiges Verwertbarkeitsdenken. Hier das knackige Originalzitat:

Il n’y a de vraiment beau que ce qui ne peut servir à rien ; tout ce qui est utile est laid, car c’est l’expression de quelque besoin, et ceux de l’homme sont ignobles et dégoûtants, comme sa pauvre et infirme nature. – L’endroit le plus utile d’une maison, ce sont les latrines. (Übersetzung)

(Théophile Gautier: Mademoiselle de Maupin, 1935)

Proust scheint das Ideal des zweckfrei Schönen noch einmal aufzurufen, er entzieht ihm aber – ganz ohne Latrinenmetaphorik – seine Verbindlichkeit und lenkt den Blick auf einen anthropologisch bedingten Faktor, der hier querschießt, und zwar in Form einer versteckten Koketterie Mme Swanns: Als vermeintliche Hohepriesterin modischer Selbstzweckhaftigkeit (was schon ein Widerspruch in sich ist) lässt er sie die Jacke „die sie doch eigentlich hatte anlassen wollen“ ausziehen und sie Marcel sogar zum tragen geben. Doch wozu, wenn nicht in der Erwartung, dass er sie als Kunstwerk bestaune? Und auch der Bildhauer hofft insgeheim, es möge sich irgendwann einmal jemand in solche Höhen vorwagen, dass er die Virtuosität seinens Könnens in ihrem ganzen Ausmaß begreift. Wird hier also nicht doch ein kleinster gemeinsamer Zweck aller Kunstschaffenden spürbar? Nämlich der, verstanden und in ihrer Leistung anerkannt, wenn nicht sogar bewundert oder berühmt zu werden? Wird das Kunstwerk für Proust somit nicht auch Teil einer gesellschaftlichen Anerkennungsdialektik, eines künstlerischen Ehrgeizes, der die Übergänge zu Verwertbarkeitsaspekten fließend werden lässt?

Mit anderen Worten: Für den Künstler ist sein Schaffen oft ein Balanceakt in schwindelnder Höhe zwischen dem Anspruch auf Eigengesetzlichkeit seiner Kunst und dem Wunsch nach Erfolg und Anerkennung, der ihn leicht anfällig werden lässt für Erwartungen, die von Dritten (dem Markt) an sein Werk herangetragen werden. Allerdings mussten Jahrhunderte hindurch Künstler als Auftragsarbeiter sich diesem Anspruch beugen und man kann sich natürlich fragen, ob die Sixtinische Kapelle etwa weniger Kunst ist, weil sie ein Auftragswerk war. Ich würde sagen nein. Denn Kunst entsteht nicht im luftleeren Raum sondern in der produktiven Auseinandersetzung mit dem Gegebenen. Es geht also weniger um die müßige Frage, was der Renaissancekünstler alles geschaffen hätte, wenn er frei von religiösen und politischen Sujetvorgaben gewesen wäre, als vielmehr darum, was er aus diesen Vorgaben gemacht hat.

Heute können noch unbekannte Schriftsteller, die für ihr Buch einen Verleger suchen, Musiker, die entdeckt werden wollen oder das Gros der bildenden Künstler, die (noch) nicht Teil des oft irrationalen Jahrmarkts der Eitelkeiten geworden sind,  wahrscheinlich mehr denn je ein Lied von der Übermacht dieses Marktes  singen, der sich aber doch auch leidenschaftlich gerne selbst entlarven lässt, wenn man es nur geschickt genug anstellt.