Grabungsfelder

Die „Drôle de guerre“ und ihre Folgen

Frankreich zwischen Anpassung und Widerstand (1939-45)

Es ist nicht selbstverständlich, dass der deutsch-französische Freundschaftsvertrag schon seit 1963 Bestand hat, sondern Ergebnis des erklärten Willens beider Länder, nach Jahrhunderten kriegerischer Auseinandersetzungen zu einem gedeihlichen nachbarschaftlichen Verhältnis zu finden, das vorausblicken lässt. Heute hofft man auf die beiden Länder im Zentrum Europas als Motor des Einigungsprozesses. Gerade auch politisch scheint angesichts der aktuellen, oft länderübergreifenden Krisen eine stabile Mitte unverzichtbar: steigende Arbeitslosigkeit, Flüchtlinge, Terror und vielerorts ein gefährlicher gesellschaftlicher Rechtsruck sind akute Probleme, die gemeinsam gelöst werden wollen.

Appelle an nachbarschaftliches Einvernehmen erscheinen umso zwingender, wenn man zurückblickt auf die gemeinsame Geschichte: Zwischen dem 18. und dem 20. Jahrhundert überstürzten sich die Konflikte zwischen Deutschland und Frankreich: In nicht weniger als sechs Kriegen fanden mehrere Millionen Angehörige beider Nationen den Tod. Der letzte dieser Kriege kam nicht überraschend und doch wurde er von französischer Seite unterschätzt. Das was als „drôle de guerre“ („komischer Krieg“) zunächst scheinbar harmlos begann, wuchs sich zu einem neuerlichen Weltkrieg aus. Und vielleicht ist es eine böse Ironie der Geschichte, dass führende gesellschaftliche Kreise Frankreichs, des Ursprungslands der Menschen- und Bürgerrechte, sich im Verlauf dieses Krieges von den Interessen Hitlers und der Nationalsozialisten nicht ganz unfreiwillig vereinnahmen ließen.

In seinem aktuellen Essay weist der Deutsch-Franzose Nils Minkmar darauf hin, wie schwer sich Frankreich mit den Schattenseiten dieser eigenen Vergangenheit und mit öffentlichen Formen der Erinnerungskultur noch immer tut. Die komplexen Geschehnisse rund um Kollaboration und Résistance und insbesondere die ehrenrettende Mythenbildung, die gleich nach Ende des zweiten Weltkriegs einsetzte, trugen lange dazu bei, eine Aufarbeitung der Problematik eher zu unterbinden als zu fördern. Gleichwohl strukturieren diese Mythen bis heute das politische Feld und werden nach wie vor gerne zur Legitimierung parteipolitischer Interessen oder zur moralischen Erziehung der Jugend herangezogen (Vorbild Résistance).

Von Verdrängung kann man allerdings nur bedingt sprechen, denn das Thema stößt in Frankreich auf großes Interesse. Davon zeugt nicht nur der immense Publikumserfolg einer Fernsehserie wie Un village français (Ein französisches Dorf), die zwischen 2007 und 2017 in sieben Staffeln ausgestrahlt wurde. Ziel der Regie war es, den Okkupationsalltag eines kleinen Dorfes nahe der Demarkationslinie in allen seinen Graustufen darzustellen und dabei eine Fiktion vor dem Hintergrund des aktuellen Stands historischer Forschung zu präsentieren. Erstaunt stellt man aber auch fest, wie stark diese Zeit im literarischen Bewusstsein Frankreichs präsent ist. In einer schier unübersehbaren Fülle beschäftigen sich Romane, Essays, Memoiren und Sachbücher – darunter auch viele Neuerscheinungen –   differenziert genug damit, als dass man Gefahr laufen würde, in einseitige Deutungsmuster zu verfallen.

Die im folgenden Text erwähnten Buchtitel bilden eine subjektive Auswahl, die sich nicht ausschließlich auf französische Autorinnen und Autoren beschränkt. Schon in den Vorkriegsjahren begann eine zunehmende Identifikation mit der kommunistischen oder der faschistischen Ideologie die europäischen Gesellschaften massiv zu spalten und das nationalstaatliche Denken spürbar zu überlagern. Da die Fronten sich immer mehr an die ideologischen Ränder verlagerten, kam es im Laufe des zweiten Weltkriegs zu länderübergreifenden Solidarisierungen und Abhängigkeiten, so dass an dieser Stelle auch die strenge Beschränkung auf eine Nationalliteratur nur künstlich erscheinen würde. Besonders interessiert haben mich bislang Bücher, die sich näher mit dem Thema Flucht beschäftigen. Hier stößt man leider immer wieder auf erschreckende Parallelen zum aktuellen Zeitgeschehen.

Im Literaturverzeichnis zum folgen Beitrag finden sich die erwähnten, aber auch darüber hinausgehende Titel aufgelistet. Der gesamte Text ist ein work in progress und wird sukzessive fortgeschrieben.

1. Geschichte

Nach monatelangem, zermürbendem Ausharren gelang es den Deutschen am 13. Mai 1940 in einer militärischen Blitzoffensive bei Sedan die Maginot-Linie zu durchbrechen und binnen eines Monats die Hauptstadt Paris zu besetzen. In seinem Klassiker L’étrange défaite / Die seltsame Niederlage sucht der Historiker Marc Bloch die Ursachen dieser für die Franzosen so überraschenden Entwicklung auf ein strukturelles Versagen der militärischen Eliten Frankreichs zurückzuführen, aber auch auf moralische Verfallserscheinungen in Politik und Gesellschaft. Bloch wurde mit seinem Buch zu einem Referenzautor für politische Krisen in Frankreich und wird selbst heute noch gerne zitiert. 1944 wurde er von den Deutschen als Mitglied der Résistance erschossen.

Nachdem die demokratischen Gehversuche der Dritten Republik allgemein als gescheitert galten, gelangte nun unter dem Zwang der Umstände von Mitte Juni 1940 bis zum Zusammenbruch des Dritten Reichs der „Sieger von Verdun“, ein hoch angesehener, altgedienter Militär aus dem Ersten Weltkrieg an die Spitze des Staates. Marschall Pétain genoss das Vertrauen breiter Bevölkerungskreise und begegnete der allgemeinen Kriegsmüdigkeit sowie den gesellschaftlichen Hoffnungen auf einen Erhalt der Souveränität Frankreichs auf seine Weise: Er entschied sich für den Waffenstillstand und eine Kollaboration mit dem Hitlerregime, um seine Visionen für das Land in einer Mischung aus charismatischem Personenkult und reaktionärem Autoritarismus durchzusetzen.

Frankreich wurde nun zweigeteilt in eine besetzte Nord- und eine freie Südzone, letztere mit Sitz der neuen Regierung in Vichy, einem damals schon bekannten Luftkurort in der Region Rhône-Alpes. Das Vichy-Régime musste den Besatzern empfindliche Zugeständnisse machen. Pétain nutzte seine Scheinautonomie aber auch, um seiner Vision von einer neuen moralischen Gesellschaftsordnung Form zu geben, die der des Nationalsozialismus gar nicht so fern stand. Eine kompakte Darstellung dieser kurzen, aber einschneidenden Phase französischer Geschichte ist nachzulesen bei dem in Frankreich bekannten Vichy-Historiker Henry Rousso: Le régime de Vichy / Vichy: Frankreich unter deutscher Besatzung 1940-1944, etwas ausführlicher und mit reichhaltigem Quellenmaterial in der älteren Studie von Marc-Olivier Baruch: Le régime de Vichy / Das Vichy-Régime.

Den für das besetzte Frankreich moralisch wichtigen Gegenpol zur Kollaboration bildete die Résistance – eine nur sehr begrenzt von General de Gaulle aus dem Londoner Exil heraus koordinierte Widerstandsbewegung. Tatsächlich handelte es sich um eine Vielzahl meist autonomer Gruppierungen, deren Aktivitäten seit Unterzeichnung des Waffenstillstands belegt sind. Gerade die Heterogenität ihrer Mitglieder in Bezug auf Alter, Geschlecht, Gesellschaftsschicht, Nationalität, Religion und politische Überzeugung sowie ihre jeweiligen Ziele verhinderten ein schlagkräftiges Zusammenwirken und somit auch eine nennenswerte Einflussnahme der Résistance auf das Kriegsgeschehen. Zwei jüngere Werke, die bislang beide nicht in deutscher Übersetzung vorliegen, geben in unterschiedlicher Herangehensweise einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand und lassen sich deshalb sinnvoll ergänzend lesen: Robert Gildea lehrt  moderne Geschichte in Oxford und ist Frankreichspezialist. Mit Fighters in the shadows. A new history of the French Resistance legt er eine kraftvoll erzählte Studie vor, die sich methodisch vor allem auf Zeitzeugenberichte stützt. Der französische Résistance-Spezialist Olivier Wieviorka, arbeitet in seiner Histoire de la Résistance. 1940–1945 mit einer breiten Datenbasis, geht konsequent analytisch vor und zeigt ein besonderes Interesse an den politischen Dimensionen des Widerstands.

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2. Die Zeitzeugen

2a Romane und Biographisches

Mit Einmarsch der Deutschen in Paris setzte eine Massenflucht der Bevölkerung aus der Hauptstadt in die unbesetzte Südzone ein. Mindestens 8 Millionen Menschen waren in dieser Zeit auf den Landstraßen unterwegs und das allgemeine Chaos förderte die ganze Bandbreite menschlicher Charakterzüge zu Tage. Als „wichtigsten und ehrlichsten Roman“ über das besiegte Frankreich bezeichnet Alex Rühle Irène Némirovskys mitten in diesen Wirren entstandenes Romanfragment Suite française. Der erste von zwei erhaltenen Teilen spielt in Paris, der zweite in der französischen Provinz. 1942 wurde die in den 20er Jahren in Frankreich höchst erfolgreiche Schriftstellerin und Tochter russisch-jüdischer Emigranten deportiert und fand in Ausschwitz den Tod. Das  Manuskript wurde erst über ein halbes Jahrhundert später von Némirovskys Töchtern wiederentdeckt und 2003 veröffentlicht.

Eines der folgenreichsten Zugeständnisse des Vichy-Régimes war sicher die Übernahme von Art. 19 des Waffenstillstandsabkommens vom 22. Juni, mit dem sich die französische Führung verpflichtete, deutsche und österreichische Flüchtlinge „auf Verlangen“ auszuliefern. Diese Verfügung setzte der langjährigen Tradition Frankreichs als einer sicheren Zufluchtsstätte für Verfolgte und Exilierte jeglicher Herkunft ein schmerzliches Ende. Ab Juni 1940 waren die deutschen Emigranten, vor allem Juden, Sozialdemokraten und Kommunisten, Künstler und Intellektuelle, die teilweise schon seit den 30er Jahren in Frankreich lebten, ihren schlimmsten Feinden auf Gedeih und Verderben ausgeliefert. In Exil am Mittelmeer. Deutsche Schriftsteller in Südfrankreich 1933-1941 zeichnen Ulrike Voswinckel und Frank Berninger auf der Grundlage von Briefen und Dokumenten aus den Nachlässen von Klaus und Erika Mann, Anette Kolb, Alfred Neumann u.a. den beschwerlichen Alltag deutscher Schriftsteller im französischen Exil nach.

Im allgemeinen Durcheinander galt es, Fluchtwege zu finden, um in die USA oder ein lateinamerikanisches Land auszureisen, das bereit war, Exilsuchende aufzunehmen. Dazu boten sich zwei Hauptrouten: die eine, weitaus schwieriger umzusetzen und deshalb auch weniger genutzt, führte mit dem Schiff direkt von Marseille aus – teils mit Zwischenstationen in Algier, Oran oder Casablanca – nach Übersee, die andere zu Fuß über die Pyrenäen, durch Franco-Spanien nach Lissabon und von dort aus weiter auf dem Seeweg. In jedem Fall mussten die Verfolgten  oft monatelange bürokratische Spießrutenläufe durch Präfekturen, Botschaften und Konsulate unternehmen, um sich all die zur Flucht notwendigen Papiere zu beschaffen. Ab Sommer 1940 wurde die südfranzösische Küstenstadt Marseille zu einem Knotenpunkt für tausende von Flüchtlingen und oft tragischer Schauplatz ihrer verzweifelten Bemühungen, diesem Hexenkessel heil zu entkommen.

Anna Seghers, Jüdin, Kommunistin und Exildeutsche machte die Erlebnisse dieser Kriegsphase, in die sie selbst hautnah involviert war, zum Stoff eines ihrer größten literarischen Erfolge. Ihr Roman Transit, den sie unter dem unmittelbaren Eindruck des Fluchtchaos in Marseille begann und im mexikanischen Exil fertig stellte, erschien 1944 zunächst in spanischer und englischer Sprache, 1948 dann im deutschen Original. Anna Seghers portraitiert in diesem Roman nicht primär die Verhältnisse im Marseille der ersten Kriegsmonate. Zwar greift sie Originalschauplätze bis in die Details der Stadtgeographie hinein auf, integriert selektiv tagesaktuelles Geschehen und verdichtet in ihrer Geschichte das Schicksal real existierender Personen, aber das Buch ist durch und durch Literatur: eine moderne Odyssee über die menschliche Grunderfahrung des Verlustes der Heimat und der Suche nach Möglichkeiten, mit dieser Erfahrung umzugehen. Neben Némirovskys Suite française gehört auch Transit zu den beeindruckenden Zeugnissen für die Kraft des Schreibens als Überlebensstrategie.

Nun gab es durchaus Hilfsorganisationen und humanitäre Initiativen aus dem In- und Ausland, die alles daran setzten, das Schicksal der Flüchtlinge zu erleichtern. Gefahrenbedingt waren jedoch nur wenige im Bereich der Fluchthilfe tätig, wie zum Beispiel der amerikanische Journalist Varian Fry. Nach Bekanntwerden der bedrohlichen Lage deutscher Künstler und Intellektueller im besetzten Frankreich wurde er vom amerikanischen Emergency Rescue Committee direkt nach Marseille entsandt und gründete dort den halb offen halb im Untergrund operierenden Centre Américain des Secours. In 13 Monaten unermüdlicher Arbeit gelang es ihm und seinen Mitarbeitern, mehr als 2000 Menschen, darunter prominenten Schriftstellern wie Heinrich und Golo Mann,  Franz Werfel, Lion Feuchtwanger und ihren Angehörigen die Flucht aus dem besetzten Frankreich zu ermöglichen. Seine 1945 veröffentlichten autobiographischen Aufzeichnungen über diese Zeit mit dem Titel Surrender on demand / Auslieferung auf Verlangen lesen sich spannend wie ein Agententhriller und bestechen durch ihre Leichtigkeit und ihren Witz bei gleichzeitig tiefem Bewusstsein von der Tragweite der Aufgabe. Fry wurde im August 1941 verhaftet und ausgewiesen, die Arbeit des Centre ging allerdings noch ein Jahr lang weiter.

Nach seiner Rückkehr in die USA hatte Fry Schwierigkeiten, als Journalist wieder Fuß zu fassen. Aufgrund seiner in Frankreich geknüpften vielfältigen Kontakte mit Anhängern sozialistischer und kommunistischer Ideen wurde er in den 50er Jahren ein Opfer der McCarthy-Ära. Frys Engagement, das man aufgrund seiner Illegalität und seiner antifaschistischen Ausrichtung durchaus zu den Résistance-Aktivitäten zählen kann, verzerren ein wenig das Bild vom Verhältnis der USA zum französischen Widerstand. De facto wurde dieser von Präsident Roosevelt gering geschätzt und nur wenig unterstützt.

Im Jahr 1989 erst gab Lisa Fittko ihren auf Tagebucheinträgen basierenden Erlebnisbericht Mein Weg über die Pyrenäen heraus. Man kann ihn als komplementäres Gegenstück zu Frys Buch lesen: Es ist ein Dokument, das von ungeheurer Tatkraft auf Opferseite zeugt, von Risikobereitschaft und einem unbedingten Überlebenswillen, selbst in ausweglosen Situationen wie Trennung, Internierung in Lagern oder Krankheit. Zusammen mit ihrem Mann Hans Fittko war die gebürtige Österreicherin, ebenfalls jüdischer Abstammung und im antifaschistischen Lager aktiv – von Fry mit Papieren ausgestattet und beauftragt worden, eine noch wenig kontrollierte historische Fluchtroute  über die Pyrenäen ausfindig zu machen, die den französischen Küstenort Banyuls sur Mer mit dem Spanischen Portbou verbindet. Die Fittkos kamen und blieben von September 1940 bis April 1941 an diesem Grenzort. Getarnt als französische Umsiedler aus dem Elsass, teils aber auch gedeckt und aktiv unterstützt von den Einheimischen führten die beiden in Kooperation mit Frys Organisation mehr als 200 Flüchtlinge auf dem gefährlichen Weg in die Freiheit bevor sie unter erschwerten Bedingungen schließlich selbst die Flucht antraten.

Nicht allen gelang es, das Land zu verlassen und selbst wer es schließlich schaffte, hatte vorher oft Monate in französischen Internierungslagern verbracht. Die frühesten dieser Lager gehen auf die Endphase der Dritten Republik und des spanischen Bürgerkriegs zurück, lagen im Südwesten an der französisch-spanischen Grenze (Gurs, Saint-Cyprien, Argelès) und dienten der Aufnahme riesiger Ströme von republikanischen Flüchtlingen, die dem Franco-Regime zu entkommen suchten. Diese Praxis stand jedoch noch in einem provisorischen Kontext und war durch eine Ausnahmesituation geprägt. In der folgenden Phase zwischen 1939 und 1942 wurde die Internierung bereits als bevorzugtes Mittel angewandt, um die fremdenfeindlichen politischen Akzente aus den 30er Jahren in Form einer offen repressiven und xenophoben Politik umzusetzen. Sie richtete sich gezielt gegen politische Emigranten, Juden, Sinti und Roma, Kommunisten und Interbrigadisten aus dem spanischen Bürgerkrieg und diente vorgeblich der Feststellung des Status und dem Auffinden von Spionen. Inzwischen weiß man von über 100 solcher Internierungslager auf französischem Boden, die in aller Eile in stillgelegten Fabriken, Mühlen, Ziegeleien oder auf Sportplätzen errichtet worden waren und in denen meist katastrophale hygienische Zustände herrschten. Die berüchtigtsten waren das Frauenlager Gurs und das Straflager Le Vernet. Ab Mitte 1942, als sich der Kampf gegen die Résistance verschärfte und Hitlers „Endlösung“ in Gang kam, wurden diese Internierungslager zu Durchgangsstationen auf dem Weg in die Vernichtungslager des deutschen Reichs.

Der Teufel von Frankreich war das erste Buch, das Lion Feuchtwanger im amerikanischen Exil schrieb, nachdem ihm mit Hilfe von Varian Fry die Flucht geglückt war. Es wurde 1941 veröffentlicht und  ist ein persönlicher Erfahrungsbericht über seine beiden Aufenthalte im Internierungslager Les Milles nahe bei Aix-en-Provence. Auch in Jorge Sempruns autobiographischem Roman Le grand voyage / Die große Reise, spielen Erinnerungen an die Internierung eine Rolle.

2b Die Zerrissenheit der französischen Intellektuellen

Die Tatsache, dass es Hitler gelang, Frankreich binnen kürzester Zeit einzunehmen hat auch etwas mit der extremen Schwäche der Volksfrontregierung unter Leon Blum und mit einer bis auf die französische Revolution zurückgehenden Spaltung der politischen Landschaft in Frankreich zu tun. Wolfgang Matz spürt in seinem Essay Frankreich gegen Frankreich. Die Schriftsteller zwischen Literatur und Ideologie dem geistigen Klima nach, das die Intellektuellen seit Ende des 19. Jahrhunderts gegeneinander aufbrachte und das politische Feld bis heute strukturiert.

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3. Literatur der zweiten Generation

Im Gegensatz zur Unmittelbarkeit des Erlebens in der Literatur der Zeitzeugen steht das Schreiben der zweiten Generation schon spürbar im Zeichen einer Suche nach Erklärungen und nach Bewältigung, aber auch nach einer kritischen Auseinandersetzung mit der nationalen Legendenbildung. Zur zweiten Generation zählen diejenigen Schriftsteller, die den Krieg noch als Kinder miterlebten, bis etwa zum Geburtsjahrgang 1960.

Ein verstörender Klassiker der Okkupationsliteratur ist das 1974 von Regisseur Louis Malle und dem Literatur-Nobelpreisträger Patrick Modiano verfasste Drehbuch zum gleichnamigen Film: Lacombe Lucien. Ungeschminkt arbeiten Malle/Modiano die schicksalhafte Entwicklung eines einfachen Bauernsohns zum Kollaborateur heraus und zeigen die Faszination auf, die diese Bewegung in der französischen Provinz auf einen Jugendlichen ausüben konnte, der schwierigen familiären Verhältnissen ebenso wie seinem eigenen schwach ausgeprägten Selbstbewusstsein entkommen will. Das Werk wirft jedoch erstmals auch einen kritischen Blick auf den Heldenkult um die Résistance, der den französischen Film bis 1970 dominiert hatte. Lucien gerät nämlich nur durch einen unglücklichen Zufall in den Einflussbereich der Kollaborateure, nachdem er zuvor von einem überheblichen Résistancekämpfer abgewiesen wird.

Philippe Grimbert ist Psychoanalytiker und Schriftsteller. Sein bisher größter Erfolg war der 2004 veröffentlichte Roman Un secret / Ein Geheimnis, in dem er ein persönliches Kindheitstrauma aufarbeitet. Rahmenhandlung ist die Geschichte des fünfzehnjährigen Ich-Erzählers Philippe  – angeblich Einzelkind –, der den Untiefen der eigenen Erinnerung und einem verdrängten Familiengeheimnis auf die Spur kommt: der tatsächlichen Existenz eines älteren Bruders, den er in seiner kindlichen Phantasie immer schon imaginiert hatte. Allmählich enthüllen sich ihm die schicksalhaften Umstände seines Todes. Seine Eltern hatten während der Besatzungszeit nämlich keineswegs so glückliche Jahre in der freien Zone verbracht wie die Familienanekdoten es gerne glauben machten.

Die genial konstruierte Fiktion dreht sich um eine folgenschwere Liebes- und Ehebruchsgeschichte vor dem Hintergrund der systematischen Ausgrenzung der Juden aus dem öffentlichen Leben in der besetzten Zone – eine Gefährdung, die die Betroffenen nicht selten in potentiell tödliche Fluchtversuche trieb. Auf psychologischer Ebene setzt Grimbert sich mit dem problematischen Vorsatz der Überlebenden auseinander, den Nachkommen das Grauen zu verschweigen, woraus wiederum tiefgreifende neue Verletzungen bei der zweiten Generation entstehen. Über die persönliche Aufarbeitung hinaus ist der Roman aber auch eine Anklage des Vichy-Regimes und der von Ministerpräsident Laval verfügten Deportationen von Kindern jüdischer Herkunft, die in der Öffentlichkeit bis heute noch viel zu wenig Beachtung finden.

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4. Literatur der dritten Generation

Lange war es in Frankreich verpönt, über den zweiten Weltkrieg zu schreiben, wenn man ihn selbst nicht miterlebt hatte. Erdrückend war die Autorität derjenigen, die noch aus eigener Erfahrung darüber berichten konnten. Ihnen überließ die zweite Generation weitgehend das Feld oder litt – mit wenigen Ausnahmen wie etwa Philippe Grimbert – still an deren Sprachlosigkeit.

Die Generation der Enkel, die in den 60er und 70er Jahren geboren wurden, bezieht ihre Informationen über den Krieg nur noch mittelbar aus den Erzählungen oder Berichten von Zeitzeugen. Diese sterben jedoch allmählich aus und so stellt sich die Frage, wie eine Kultur des Gedenkens sinnvoll weiter gepflegt werden kann. Etwa seit Mitte der 00er Jahre nehmen Autoren der dritten Generation nun das in Angriff, was ihre Eltern noch kaum gewagt hatten. Es mag mit dem Bedürfnis zu tun haben, dieses Erinnerungsvakuum zu füllen, vor allem aber auch dort weiter zu fragen, wo die Selbstkritik der Vorfahren an ihre Grenzen stieß: Spät – im Jahr 1995 – wurde von Präsident Chirac erstmals offiziell eine Mitschuld Frankreichs an der Deportation von Juden eingestanden. Und schließlich mag auch ein aktiver Zuspruch letzter Zeitzeugen wie Jorge Semprun so machen Schriftsteller der dritten Generation ermutigt haben.

Einer der frühesten unter ihnen ist Gilles Rozier, ein leidenschaftlicher Kenner des Yiddischen und des Hebräischen. Bis 2014 war er Leiter des Pariser Hauses für yiddische Kultur. In seinem 2003 veröffentlichten Roman Un amour sans résistance / Eine Liebe ohne Widerstand zersetzt er raffiniert das in der nationalen Psyche verwurzelte Schwarz-weiß-Denken in Kategorien von Anpassung und Widerstand, Freund und Feind und nicht zuletzt auch von männlich und weiblich.

Schauplatz ist ein französisches Dorf in der freien Zone. Die Liebe des erzählenden Ich (ob Mann oder Frau bleibt bis zum Schluss offen) zur „Sprache Goethes und Goebbels“, sorgt zunächst für kleine Kollaborationsaufträge in Übersetzungsfragen. Allerdings lässt sein/ihr besonderes Faible für die deutsche Literatur – vor allem die indizierte – aber auch für das Yiddische und schließlich eine heftige Leidenschaft für den bedrohten polnischen Juden Herman das, was zunächst lauwarmes Mitläufertum ist, in waghalsige Résistance umschlagen: Ein getarntes Kellerloch im Haus der Eltern, längst schon umfunktioniert zur geheimen Privatbibliothek verbotener deutscher Bücher, wird zum Versteck für den Verfolgten und schließlich zum passionierten Liebesnest, in dem er über zwei Jahre ausharren muss. Nichts daran ist romantisch, denn die Fragwürdigkeit dieses Widerstands bleibt dem Ich schuldhaft bewusst und dem Roman bis zum Schluss eingeschrieben. Wer hat hier Macht über wen? Wie glaubwürdig ist diese Form von Philosemitismus? Ein sprachlich virtuoser, ebenso kultivierter wie erotisch unverblümter Beitrag zum Thema, der in der ersten und zweiten Generation so wohl noch nicht denkbar gewesen wäre.

zum Literaturverzeichnis
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