Maike Weißpflug: Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken (2019)

Es gibt Schriftsteller oder Denkerinnen, auf die man im Laufe eines Leselebens immer wieder zurückkommt, weil sie ebenso faszinierend wie fordernd sind. Hannah Arendt zählt bei mir dazu. Es ist kein müheloser Lesefluss, der sich bei der Arendt-Lektüre einstellt. Manche Sätze und wohl die meisten ihrer Texte wollen mehrfach gelesen werden, bis sich das Gemeinte erst richtig – oder überraschend neu – erschließt. Immer aber ist es ihr Scharfsinn, der dem einmal formulierten Gedanken im nächsten Moment schon eine neue Wendung gibt, ihre intellektuelle Unabhängigkeit, ihr Mut, sich zwischen alle Stühle zu setzen und dabei auch einmal falsch zu liegen, was den besonderen Reiz der Arendt-Lektüre ausmacht.

Dem regelrechten Boom, den Hannah Arendt in den letzten Jahren erlebt, kommen der Perspektivreichtum ihres Werks, aber auch die vielen Kleinformate – Artikel, Aufsätze, Vorträge, Kritiken – entgegen, die sie nicht so sehr an eine wissenschaftliche Zunft adressierte (an welche auch? gerade hier setzte sie sich mit Vorliebe zwischen alle Stühle), als vielmehr an eine breite, politisch interessierte Öffentlichkeit oder zumindest an einen Wissenschaftsbetrieb, der offen genug ist, die eigenen fachlichen Grenzen zu überschreiten. Heute sind es wohl weniger die großen Werke wie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Vita activa oder Über die Revolution, die wieder boomen. Was Verlagen und interessiertem Lesepublikum vielmehr entgegenkommt, ist der Umstand, dass sich gerade auch über die Kleinformen aktuelle Anknüpfungspunkte ergeben und es dadurch möglich wird, sich Arendts Denken auf kurzen Wegen zu nähern: „Wir Flüchtlinge“ (Reclam, 2016) , „Die Freiheit, frei zu sein“ (dtv, 2018) oder „Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur“ (Piper, 2018) – keine dieser aktuellen Neuauflagen oder Erstdrucke ist länger als 50 Seiten.

Es wäre sicher interessant, der Verschiedenheit individueller Arendt-Lesebiografien nachzugehen. Die Vielfalt möglicher Zugänge zu ihrem Werk könnte Arendts eigenes Weltverständnis gerade auch aus der Rezeptionsperspektive bestätigen. Auf drei Phasen meiner eigenen Begegnung mit ihrem Werk möchte ich eingehen.

Der Philosophie den Laufpass geben

Die traumatische Erfahrung des Nationalsozialismus brachte Hannah Arendt zu der Einsicht, dass das abendländische philosophische Denken in der Tradition Platons versagt hat. Jenseits von Heulen und Zähneknirschen erteilt sie dieser Tradition in ihrem genialen Vortrag Sokrates. Apologie der Pluralität 1954 eine kecke Absage, die zugleich einfühlsam genug ist, an die psychologischen Wurzeln dieses Irrweges zu rühren ohne gleich eine direkte Linie von Platon zu den Verbrechen des Nationalsozialismus zu ziehen, wie Karl Popper dies tut. Gleichwohl wird die Erkenntnis des potenziell totalitären Charakters der (Ideal)-ismen, also aller geschlossenen Systeme der Welterklärung und die daraus hergeleitete notwendige Emanzipation der Politik von der Philosophie zur Grundlage ihres Denkens und eines Politikverständnisses, das vermeintliche Gewissheiten aufgibt, um die „Pluralität des Menschen“ anzuerkennen. Sofern die Beteiligung der Philosophen an der Politik überhaupt noch möglich und wünschenswert sei, müssten sie radikal umdenken und „die ganze Vielfalt menschlicher Angelegenheiten […] zum Gegenstand ihres Staunens machen“1.

Das Lachen rehabilitieren

Ihre große Studie Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen (1964) ist das Buch, mit dem Hannah Arendt die größten Kontroversen um ihr Denken und ihre Person ausgelöst hat. Es handelt sich um die ausgearbeitete Fassung einer im New Yorker publizierten Artikelserie über den 1961 in Jerusalem geführten Prozess gegen Adolf Eichmann, Cheflogistiker der nationalsozialistischen Deportationen. Heftig kritisiert wurde an ihrem Bericht zum einen, dass sie offensichtlich in der Lage war, über „das Böse“ in Gestalt Eichmanns zu lachen (die berühmt gewordene „Banalität des Bösen“): „Ich war wirklich der Meinung, dass der Eichmann ein Hanswurst ist, und ich sage Ihnen: Ich habe sein Polizeiverhör, 3600 Seiten, gelesen, und sehr genau gelesen, und ich weiß nicht, wie oft ich gelacht habe, aber laut!“ 2. Dies wurde ihr damals wie auch in der folgenden Rezeption als Verharmlosung und Naivität ausgelegt. Zwar wurde die (nicht zwingend von Arendt stammende) These vom „gedankenlosen Schreibtischtäter“ inzwischen auf der Basis des umfangreichen Materials der Sassen-Protokolle widerlegt.3 Doch das letzte Wort zu Arendts Darstellung ist damit noch nicht gesprochen. Eine Dimension ihres Lachens, die auch schon ihr Lehrer und väterlicher Freund Karl Jaspers bemerkt hatte, bringt Maike Weißpflug in ihrem neu erschienenen Buch Hannah Arendt, die Kunst, politisch zu denken wieder ins Gespräch:

Das Lachen schafft eine Distanz, die in der Lage ist, einen Raum für die Konfrontation mit den Tatsachen zu eröffnen. Arendt hat die Fähigkeit, sich durch Lachen emotional vom Schrecken zu distanzieren, im Gespräch mit Joachim Fest einmal als Souveränität bezeichnet: „Ich bin noch der Meinung, dass man lachen können muss, weil das Souveränität ist.“ Die Souveränität, die Arendt hier meint, ist die Souveränität des Urteilens […]. Es ist die Weigerung, sich als Opfer zu begreifen und im Schrecken zu verharren. […] Es ist ein Akt der Befreiung vom Bann des Schrecklichen. (118)

Arendts Beschreibung Eichmanns fügt sich nicht in das mythologische Bild des negativen Nationalhelden, das die jüdischen Vertreter des Zionismus gerne gezeichnet hätten, um daraus das einheitsstiftende Moment eines „gemeinsamen Feindes“ (T. Herzl) herzuleiten. Arendt selbst war dem Zionismus, der Idee einer religiös-politischen Einheit des Judentums im Rahmen eines real existierenden Staates immer schon kritisch gegenübergestanden, weil sie in ihr nur eine neuerliche Form des Mythos am Werk sah, den es mit Blick auf die Pluralität der menschlichen Verhältnisse (in diesem Fall die Anerkennung der Existenz der palästinensischen Bevölkerung) gerade zu überwinden galt. In der entmythologisierenden Form ihrer eigenen Erzählung ging Arendt sogar so weit, den reinen Opferstatus der Juden zu hinterfragen, indem sie – und dies war das zweite Skandalon ihres Berichts, das ihr als massive Nestbeschmutzung angelastet wurde – die Kollaboration der Judenräte mit den Nationalsozialisten zum Thema machte.

Zur Eichmann-Lektüre kam ich auf Umwegen über Margarete von Trottas Film Hannah Arendt. Ihr Denken veränderte die Welt, der 2013 in die Kinos kam und sich ganz auf die Eichmann-Kontroverse konzentrierte. Barbara Sukowa, Axel Milberg, Ulrich Nöthen u.a. lassen hier die Lebendigkeit des intellektuellen Migrantenkreises im New York der 50er-Jahre aufleben, dann die bittere Erfahrung einer entfesselten Presse im Zuge der Eichmann-Affäre sowie des Zerwürfnisses zwischen Arendt und ihren guten Freunden Hans Jonas und Kurt Blumenfeld.

Warum dieser Film gerade zu diesem Zeitpunkt? In der bedrängenden Totaleinstellung der Schlussszene ist unter dem Eindruck bedrohlicher Hintergrundmusik die Silhouette Manhattans mit den noch intakten Twin-Towers des World Trade Center sichtbar. Sind wir heute in der Lage, uns von der Banalität des Bösen lachend zu emanzipieren, um uns dann einer Konfrontation mit den Tatsachen zu stellen und unseren eigenen Anteil daran ausfindig zu machen? Ist es das, was man von Hannah Arendt lernen kann?

Wir brauchen diese Geschichten…

Über den Bereich von Arendts Denken, der mich zuletzt beschäftigt hat, gibt es bereits einen ausführlichen Beitrag hier auf B&P. Es handelt sich um dem Vortrag Die Freiheit frei zu sein aus dem Jahr 1967 und das dahinterstehende umfangreichere Werk Arendts Über die Revolution, das nahezu zeitgleich mit Eichmann in Jerusalem erschien und in dem sie sich mit folgenden Fragen befasst: Was ist (politische) Freiheit? Wo und wie kann man sie nach dem Zusammenbruch der traditionellen Institutionen, Werte und Verbindlichkeiten wiederfinden? Gibt es dafür geschichtliche Vorbilder? Aus Arendts Sicht ja. Sie macht sie vor allem in der Ursprungsdynamik der Ereignisse aus, die zur französischen Revolution geführt hatten, insbesondere aber in der Amerikanischen Revolution der 1770er Jahre. Dass es Arendt mit ihren – unter Historikern damals heftig kritisierten – Thesen tatsächlich um etwas anderes ging als um historiographische Exaktheit, dass sie vor allem dem nachspürte, was sie selbst als „sinnvolle Revolution“ verstand und dass sie dies immer schon mit Blick auf die Gegenwart und eine politische Neugestaltung der Zukunft tat, verstanden damals nur wenige. Wenn Elisabeth Young-Brühl in ihrer großen Arendt-Biographie schreibt „Arendts Porträt der [amerikanischen] Gründerväter war im buchstäblichen Sinne des Wortes fabulös, aber ihre Fabel war von einer besonderen Art: eine politische Fabel“4, dann spricht sie einen Aspekt an, der auch in der neueren Forschung über Arendt wieder stärker ins Blickfeld rückt und einen wichtigen Beitrag zum Gesamtverständnis ihres Denkens leistet.

Die Politikwissenschaftlerin Maike Weißpflug hat eine mitreißende, sorgfältig recherchierte und dokumentierte Neuinterpretation von Hannah Arendts Denken vorgelegt, die mich in meiner eigenen Arendt-Lektüre erheblich weitergebracht hat und die mir vor allem aus drei Gründen lesenswert erscheint:

  1. Das Buch liefert einen gut lesbaren Schlüssel zum Gesamtverständnis von Arendts Werk, egal aus welcher Perspektive man sich ihr nähert. Klar aber ohne jede wissenschaftliche Pedanterie – ja oftmals zwischen den Zeilen – steckt Weißpflug Arendts Position im Verhältnis zu anderen mehr oder weniger verwandten Denkern, von Marx bis hin zu Foucault, Blumenberg oder Habermas ab.
  2. Vor allem die Literaturbegeisterten Leserinnen und Leser dürfte Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken ansprechen. Über Philosophie und Politikwissenschaften hinausgehend arbeitet Weißpflug das besondere Erkenntnispotential von Literatur für Arendts Denken heraus. Literarische Texte hätten ihr gerade diejenigen konkreten Erfahrungen im Zeichen menschlicher Pluralität geliefert, die sich mit dem eindimensionalen Charakter von Theorien nicht verrechnen lassen. Am Beispiel von Joseph Conrad, Herman Melville und René Char zeigt sie das auf, die Liste lässt sich jedoch beliebig verlängern. Literatur trage für Arendt das besondere Potential in sich, Stachel der Theoriebildung zu sein und werde somit zu einem unverzichtbaren Fundament ihrer Kritik.
  3. Das letzte Kapitel des Buches wirft ein besonderes Licht auf Arendts aktuelle Popularität. Weißpflug denkt hier gewissermaßen mit Arendt über Arendt hinaus, indem sie aus deren Werk Ansätze für einen Umgang mit den drängendsten Herausforderungen unserer Gegenwart bezieht. Aus Arendts kritischer Einstellung zur Moderne, die über technologischen Fortschritt und kapitalistische Akkumulation zu einer Weltentfremdung des Menschen geführt habe, leitet sie Elemente einer Strategie des Neuanfangs ab, die den Geist des unerschütterlichen arendtschen Optimismus in sich tragen:

In der vorherrschenden Debatte neigen wir dazu, die Lösungen für die vielfältigen politischen, ökologischen und ökonomischen Probleme in einem größeren Maß an Kontrolle und Beherrschung des Menschen und der Natur zu sehen. Doch weder die Natur noch die Menschen werden sich im globalen, planetarischen Maßstab zentral kontrollieren lassen. Ich plädiere, inspiriert von Arendt, dafür, Politik im Anthropozän so fragmentiert, ungleichzeitig und vielgestaltig zu denken, wie sie tatsächlich ist. Klimawandel, Biodiversitätsverlust und die vielen anderen anthropozänen Veränderungen wirken sich an verschiedenen Orten und Zeiten unterschiedlich, möglicherweise widersprüchlich aus. Ja, sie bedeuten für verschiedene Bevölkerungsgruppen, Institutionen, Individuen, Ökosysteme, Arten, Habitate und Landschaften Unterschiedliches. Anders gesagt: Wenn Arendts Diagnose, dass der Mensch in der Moderne angefangen hat, in die Natur hinein zu handeln, stimmt, dann bedeutet dies auch, dass wir einen neuen, politischen Begriff der Politik und der Ökologie brauchen; einen Begriff, der nicht mehr auf der Trennung von Mensch und Natur basiert […]. Im Zentrum des neuen Begriffs politischer Ökologie müssten vielmehr die wechselseitigen Beziehungen zwischen Menschen, menschlichen Aktivitäten, den natürlichen Dingen und Prozessen stehen. Diese Beziehungen umzuwandeln in Beziehungen im Modus des Handelns und nicht des Herstellens, setzt das Schaffen von sinnlich wahrnehmbaren Handlungsräumen voraus, denn Handlungsbeziehungen sind in Anlehnung an Arendt Beziehungen mit geringer Reichweite. Sie sind begrenzt dadurch, dass wir sinnlich verstehen können müssen, was wir tun. Wir müssen uns vorstellen was wir tun. Die Verheerungen, die der gegenwärtige, globale Kapitalismus anrichtet, sind nur aufgrund der Abstraktheit der ökonomischen Beziehungen, durch Beziehungen im Modus des Herstellens, möglich. An dieser Abstraktion setzt Arendts Kritik der Moderne an, welche die Entmündigung des Einzelnen und die Herrschaft einer entfremdeten Rationalität bedeute, welche die sinnliche Wahrnehmung entmündige und entwerte. Gegen diese Abstraktion hilft nur, auf die Vielfalt der Erfahrungen und den Einspruch des Konkreten zu hören. […]

Es ist an der Zeit, sich die Urteilskraft und den Mut, die Welt nach den Erscheinungen zu beurteilen und selber zu denken, zurückzuerobern. In dem Beharren auf die Möglichkeit, konkrete Erfahrungen zu machen und damit Denkschablonen zu überwinden, unterscheidet sich Arendts Haltung des perspektivischen, unabhängigen Denkens von dem heute weit verbreiteten Relativismus, dem jede Meinung gleich gut erscheint. Doch es besteht ein Unterschied zwischen populistischer Klimaleugnung und der Erfahrung der Menschen auf Kiribati, deren Heimat im Meer versinkt. Wir brauchen diese Geschichten, wir brauchen diese Erfahrungen, um die Welt nicht zu verlieren. Arendts Haltung zieht ihre Kraft aus den Geschichten und der Literatur, die die Vielfalt der Perspektiven aufnimmt und bewahrt. Hannah Arendt macht uns Mut, die Welt sinnlich zu betrachten, als ein Refugium, eine Schatzkammer für das Selbstbewusstsein des Menschen und für die Möglichkeit der Freiheit. (276-278)

Dass Maike Weißpflug mit dieser Arendt-Interpretation den kapitalismuskritischen Strömungen von Postextraktivismus und Degrowth den Rücken stärkt, ist sicherlich kein Zufall. Auch diese scheinen den Glauben an den Mythos globaler Klimakonferenzen längst schon verloren zu haben und vorerst auf die gestaltende Kraft selbstbestimmten lokalen und regionalen Handelns zu setzen. Und auf die produktive Macht der Geschichten, die man sich hoffentlich bald darüber erzählen wird. Wir brauchen mehr davon.


Maike Weißpflug: Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken

Matthes & Seitz / 320 Seiten / ISBN: 978-3957577214