Bouvard & Pécuchet

Archäologien des Lesens

Schlagwort: Selbstfindung

Occupy intimacy!

Juan-Carlos Pérez-Cortés: Relationship Anarchy. Occupy intimacy! (2022)

Wer auf facebook ein Profil anlegt, kann zwischen 11 verschiedenen Begriffen zur Angabe des Beziehungsstatus wählen. Und doch trifft keiner davon die hier vorgestellte Variante. Das hat damit zu tun, dass sie noch wenig bekannt ist und dass sie die gängige Norm, über Beziehungen zu sprechen und sie zu leben, radikal in Frage stellt. Andie Nordgren und Jon Jordås formulierten ihre Idee der Relationship Anarchy [RA] erstmals am 20. August 2005 in einem eindrucksvollen Redebeitrag auf dem Anarkisfestival Långholmen, Stockholm. Ein Jahr später ging Nordgrens The short instructional manifesto for relationship anarchy online.

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Das große Spiel

Céline Minard: Das große Spiel / Le grand jeu

Zum dritten Mal wird der Berliner Matthes & Seitz Verlag in diesem Jahr einen Literaturpreis für Nature-Writing vergeben. Das literarische Schreiben über die Natur kommt aus dem angelsächsischen Raum und hat sich in der Nachfolge Henry David Thoreaus bis heute zu einer durchaus politischen Gattung entwickelt, die derzeit wieder ganz neu entdeckt wird. Das überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass die Ausbeutung begrenzter Ressourcen und die damit verbundene Entfremdung des Menschen von der Natur weltweit voranschreitet. In der deutschsprachigen Literatur sieht es mit diesem Genre bislang allerdings noch recht mager aus. Zwar türmen sich in deutschen Buchhandlungen Sachbücher über Wald- und Bienensterben oder städtisches Guerillagärtnern, im Bereich der Belletristik scheint allerdings erst allmählich ein Bewusstsein dafür aufzukommen, dass das Schreiben über das Verhältnis von Mensch und Natur auch zwei Jahrhunderte nach der deutschen Romantik durchaus wieder zu einem Gegenstand literarischer Reflexion werden kann.

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Aux origines de la décroissance ist ein interessantes Editionsprojekt aus dem Umfeld von La Décroissance, einer der konsequentesten mir bekannten wachstumskritischen Zeitschriften, die nun schon seit 2004 standhaft durchhält. Drei französischsprachige Verlage, L’écosociété (Québec), L’échappée und Le pas de côté haben sich hier zusammengetan und ein erfolgreiches Dossier der Zeitung zu einer Anthologie ausgeweitet. Vorgestellt werden 50 Pioniere (darunter auch ein paar Pionierinnen) des wachstumskritischen Denkens – von Edward Abbey und Hannah Arendt über Albert Camus und Ivan Illich bis hin zu Henry David Thoreau, Leo Tolstoi und Simone Weil. Den Beiträgen vorangestellt ist jeweils ein markantes Portrait in Radierung, gefolgt von einer Seite mit ausgewählten Zitaten und wichtigen bibliographischen Hinweisen. Den Kern bildet jeweils eine etwa vierseitige pointierte Zusammenfassung von Leben und Bedeutung der vorgestellten Person für das Postwachstumsdenken. Wunderbare Appetithäppchen zum Einstieg ins Thema!

Der Soziologe Stefan Lessenich nähert sich in Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis (Hanser, 2016) dem Thema Postwachstum aus der kapitalismus- und globalisierungskritischen Perspektive sowie aus der Sicht der Nord-Süd-Kritik. Packend geschrieben und zugleich schwer verdaulich ist seine Diagnose der kapitalistischen Zentren der Welt als imperialistische Ausbeutungsgesellschaften, deren Wohlstand, Freiheiten und Lebensstil seit Jahrhunderten durch Auslagerung, durch eine Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten an die Länder des globalen Südens erkauft worden sei. Stabilisiert werde dieses Moment struktureller Gewalt durch das, was er als „Externalisierungshabitus“ bezeichnet: eine systematische Strategie des Ausblendens, des Nicht-wissen-Wollens und sich (notfalls gewaltsamen) Abgrenzens der privilegierten Gesellschaften, in der Lessenich die Prinzipien der Aufklärung selbst pervertiert sieht. Zugleich warnt er eindringlich vor den Folgen des weltgeschichtlichen Bumerang-Effekts, der den globalen Norden schon jetzt mit den Folgewirkungen seines Handelns konfrontiert.

Obwohl in vielen Belangen sicher treffend und aufrüttelnd, wird dieses Buch am schwersten wohl für all diejenigen verdaulich sein, die sich innerhalb der kapitalistischen Zentren selbst an den Rand gedrängt sehen.

Einen fundierten Einblick in das im deutschen Sprachraum bislang noch wenig systematisierte Feld von Degrowth/Postwachstum präsentieren Matthias Schmelzer und Andrea Vetter. Sie forschen in den Bereichen Wirtschaftsgeschichte und Kulturanthropologie und engagieren sich beide im Rahmen des Konzeptwerks neue Ökonomie aktiv zu Postwachstumsthemen. In ihrer Einführung definieren sie ihren Gegenstand sensibel im Spiegel verschiedener europäischer Traditionsstränge (Postwachstum/Degrowth/Décroissance). Sie zeigen ferner auf, wie die unterschiedlichen wachstumskritischen Perspektiven (ökologisch, sozial-ökonomisch, kulturell, kapitalismuskritisch, feministisch, industrialismuskritisch, Süd-Nord) bei aller vordergründigen Disparatheit sinnvoll zusammenlaufen und sich wechselseitig ergänzen können. Die Frage nach den Trägern des Wandels und den notwendigen Transformationsstrategien wird ebenso thematisch wie auch eine abschließende kritische Selbstreflexion, die zentrale Schwachstellen des Konzepts offenlegt und dadurch den Boden bereitet für eine Schärfung des Profils dieses noch jungen Forschungszweigs. Viele der hier im Grabungsfeld „Selbstbegrenzung“ aufgeführten Titel sind mir in dieser hervorragenden Einführung wieder begegnet und lassen sich dadurch in einen übergreifenden Kontext einordnen. Bei der Lektüre dieser Junius-Einführung (2019) wird klar, dass Postwachstum mehr ist als ein Nischenthema für ‚ökisch‘ angehauchte Weltverbesserer.