Bouvard & Pécuchet

Archäologien des Lesens

Schlagwort: Philosophie

Der mit dem Wolf heult

Baptiste Morizot:

  • Sur la piste animale, 2018 (dt. Philosophie der Wildnis oder Die Kunst, vom Weg abzukommen)
  • Manières d’être vivant, 2020 (noch nicht übersetzt)

Der 1990 in den USA erschienene Kinofilm Der mit dem Wolf tanzt mit Kevin Kostner in der Hauptrolle, der in Deutschland zum meistgespielten Film des Jahres avancierte, lieferte die lange überfällige Korrektur eines primitiven, von alter Kolonial-Mentalität durchdrungenen Klischees von den Indianern. Dreißig Jahre später, da die Umweltausbeutung und -zerstörung nahezu unaufhaltsam voranschreitet, beginnt man sich nun zu fragen, ob eine solche Korrektur nicht auch in Bezug auf unsere ebenso kolonial geprägten Vorstellungen von Fauna und Flora angebracht wäre. Dieses Anliegen verfolgt Baptiste Morizot in seinen Büchern.

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Zwischen allen Stühlen – die Freiheit

Maike Weißpflug: Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken (2019)

Es gibt Schriftsteller oder Denkerinnen, auf die man im Laufe eines Leselebens immer wieder zurückkommt, weil sie ebenso faszinierend wie fordernd sind. Hannah Arendt zählt bei mir dazu. Es ist kein müheloser Lesefluss, der sich bei der Arendt-Lektüre einstellt. Manche Sätze und wohl die meisten ihrer Texte wollen mehrfach gelesen werden, bis sich das Gemeinte erst richtig – oder überraschend neu – erschließt. Immer aber ist es ihr Scharfsinn, der dem einmal formulierten Gedanken im nächsten Moment schon eine neue Wendung gibt, ihre intellektuelle Unabhängigkeit, ihr Mut, sich zwischen alle Stühle zu setzen und dabei auch einmal falsch zu liegen, was den besonderen Reiz der Arendt-Lektüre ausmacht.

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Das große Spiel

Céline Minard: Das große Spiel / Le grand jeu

Zum dritten Mal wird der Berliner Matthes & Seitz Verlag in diesem Jahr einen Literaturpreis für Nature-Writing vergeben. Das literarische Schreiben über die Natur kommt aus dem angelsächsischen Raum und hat sich in der Nachfolge Henry David Thoreaus bis heute zu einer durchaus politischen Gattung entwickelt, die derzeit wieder ganz neu entdeckt wird. Das überrascht nicht, wenn man bedenkt, dass die Ausbeutung begrenzter Ressourcen und die damit verbundene Entfremdung des Menschen von der Natur weltweit voranschreitet. In der deutschsprachigen Literatur sieht es mit diesem Genre bislang allerdings noch recht mager aus. Zwar türmen sich in deutschen Buchhandlungen Sachbücher über Wald- und Bienensterben oder städtisches Guerillagärtnern, im Bereich der Belletristik scheint allerdings erst allmählich ein Bewusstsein dafür aufzukommen, dass das Schreiben über das Verhältnis von Mensch und Natur auch zwei Jahrhunderte nach der deutschen Romantik durchaus wieder zu einem Gegenstand literarischer Reflexion werden kann.

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An die Denkerinnen unter den Kunstrezipienten

Georg W. Bertram: Kunst. Eine philosophische Einführung (2016)

Von Picassos Frauenportraits haben manche noch heute die Kraft, eine Soiree zu sprengen. In Jasmina Rezas Drama Art geht eine langjährige Freundschaft am Streit über den kostspieligen Erwerb eines zeitgenössischen „weißen Bildes mit Steifen“ in die Brüche. Und das legendäre Literarische Quartett (ZDF) wurde um die Jahrtausendwende vom deutschen ‚Literaturpapst‘ Marcel Reich Ranicki und der österreichischen Kritikerin Sigrid Löffler selbst an die Wand gefahren – aufgrund unüberbrückbarer Differenzen im ästhetischen Urteil über Haruki Murakamis Gefährliche Geliebte.

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Aux origines de la décroissance ist ein interessantes Editionsprojekt aus dem Umfeld von La Décroissance, einer der konsequentesten mir bekannten wachstumskritischen Zeitschriften, die nun schon seit 2004 standhaft durchhält. Drei französischsprachige Verlage, L’écosociété (Québec), L’échappée und Le pas de côté haben sich hier zusammengetan und ein erfolgreiches Dossier der Zeitung zu einer Anthologie ausgeweitet. Vorgestellt werden 50 Pioniere (darunter auch ein paar Pionierinnen) des wachstumskritischen Denkens – von Edward Abbey und Hannah Arendt über Albert Camus und Ivan Illich bis hin zu Henry David Thoreau, Leo Tolstoi und Simone Weil. Den Beiträgen vorangestellt ist jeweils ein markantes Portrait in Radierung, gefolgt von einer Seite mit ausgewählten Zitaten und wichtigen bibliographischen Hinweisen. Den Kern bildet jeweils eine etwa vierseitige pointierte Zusammenfassung von Leben und Bedeutung der vorgestellten Person für das Postwachstumsdenken. Wunderbare Appetithäppchen zum Einstieg ins Thema!

Der Soziologe Stefan Lessenich nähert sich in Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis (Hanser, 2016) dem Thema Postwachstum aus der kapitalismus- und globalisierungskritischen Perspektive sowie aus der Sicht der Nord-Süd-Kritik. Packend geschrieben und zugleich schwer verdaulich ist seine Diagnose der kapitalistischen Zentren der Welt als imperialistische Ausbeutungsgesellschaften, deren Wohlstand, Freiheiten und Lebensstil seit Jahrhunderten durch Auslagerung, durch eine Externalisierung der sozialen und ökologischen Kosten an die Länder des globalen Südens erkauft worden sei. Stabilisiert werde dieses Moment struktureller Gewalt durch das, was er als „Externalisierungshabitus“ bezeichnet: eine systematische Strategie des Ausblendens, des Nicht-wissen-Wollens und sich (notfalls gewaltsamen) Abgrenzens der privilegierten Gesellschaften, in der Lessenich die Prinzipien der Aufklärung selbst pervertiert sieht. Zugleich warnt er eindringlich vor den Folgen des weltgeschichtlichen Bumerang-Effekts, der den globalen Norden schon jetzt mit den Folgewirkungen seines Handelns konfrontiert.

Obwohl in vielen Belangen sicher treffend und aufrüttelnd, wird dieses Buch am schwersten wohl für all diejenigen verdaulich sein, die sich innerhalb der kapitalistischen Zentren selbst an den Rand gedrängt sehen.

Einen fundierten Einblick in das im deutschen Sprachraum bislang noch wenig systematisierte Feld von Degrowth/Postwachstum präsentieren Matthias Schmelzer und Andrea Vetter. Sie forschen in den Bereichen Wirtschaftsgeschichte und Kulturanthropologie und engagieren sich beide im Rahmen des Konzeptwerks neue Ökonomie aktiv zu Postwachstumsthemen. In ihrer Einführung definieren sie ihren Gegenstand sensibel im Spiegel verschiedener europäischer Traditionsstränge (Postwachstum/Degrowth/Décroissance). Sie zeigen ferner auf, wie die unterschiedlichen wachstumskritischen Perspektiven (ökologisch, sozial-ökonomisch, kulturell, kapitalismuskritisch, feministisch, industrialismuskritisch, Süd-Nord) bei aller vordergründigen Disparatheit sinnvoll zusammenlaufen und sich wechselseitig ergänzen können. Die Frage nach den Trägern des Wandels und den notwendigen Transformationsstrategien wird ebenso thematisch wie auch eine abschließende kritische Selbstreflexion, die zentrale Schwachstellen des Konzepts offenlegt und dadurch den Boden bereitet für eine Schärfung des Profils dieses noch jungen Forschungszweigs. Viele der hier im Grabungsfeld „Selbstbegrenzung“ aufgeführten Titel sind mir in dieser hervorragenden Einführung wieder begegnet und lassen sich dadurch in einen übergreifenden Kontext einordnen. Bei der Lektüre dieser Junius-Einführung (2019) wird klar, dass Postwachstum mehr ist als ein Nischenthema für ‚ökisch‘ angehauchte Weltverbesserer.