GRABUNGSFELDER

Grabungfeld Selbstbegrenzung

Lange habe ich über einen Titel für dieses Grabungsfeld nachgedacht, das sich aus sehr verschiedenen, aber dennoch thematisch konvergenten Lektüren zwischen Frühjahr 2019 und Winter 2020 abgezeichnet hat und das einen ziemlich großen Bogen schlägt von alternativen Formen der Landwirtschaft (Permakultur) über Mikrobiologie, Ökologie und Naturrechte bis hin zu Kapitalismuskritik, Postwachstum und daraus sich ergebende Fragen der politischen Theorie.

Die massive öffentliche Präsenz der Diskussion um die Klimakrise steht derzeit in einem gespenstischen Missverhältnis zur Unaufrichtigkeit, mit der sie im politischen Rahmen geführt wird. Schnell gerät man hier ins Fahrwasser von Schlagwörtern wie dem „Green new deal“, der „Energiewende“ oder dem „grünen Wachstum“, die doch allesamt eine gedankliche rote Linie nicht überschreiten: die Überzeugung, der technologische Fortschritt werde schon dafür sorgen, dass in der modernen westlichen Welt auch in Zukunft kaum jemand sich einschränken, niemand Verzicht wird üben müssen. So erwartet man sich von der flächendeckenden Elektromobilität einen Ausweg aus der dramatischen Verknappung fossiler Brennstoffe, die uns in den nächsten 30 Jahren bevorsteht. Außerdem soll ein bald schon serienfähiger Hybridmix aus Sonne, Wind und Geothermie dafür sorgen, dass die gigantische Energieerzeugungsmaschinerie zur Selbsterhaltung des kapitalistischen Wachstumsdogmas zuverlässig am Laufen bleibt.

Doch selbst in den materiell privilegierten Kreisen der nördlichen Hemisphäre, deren Reichtum in einer jahrhundertealten Praxis der Ausbeutung benachteiligter Weltregionen gründet, ist man inzwischen skeptisch geworden und macht sich auf die Suche nach Gegenentwürfen. Dabei steht hinter der Frage nach den Alternativen – neben dem Aspekt der Verteilungsgerechtigkeit – fast immer auch die (ur)alte Frage nach dem ‚guten Leben‘, das uns in der Überfülle oft abhanden gekommen ist. In keiner der traditionellen Gesellschaften, bei denen wir heute wieder Orientierung suchen, war dieses gute Leben je ablösbar vom Gedanken eines Lebens im Einklang mit der Natur.

Bei der Wahl des Namens für dieses Grabungsfeld habe ich mich an der deutschen Fassung des Titels eines Essays orientiert, den Ivan Illich 1975 publiziert hat: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. Zum einen erscheint mir der Begriff der „Selbstbegrenzung“ noch relativ unverbraucht und flexibel anschlussfähig für die Breite der hier diskutierten Themen. Zum anderen ist er weniger stark moralisch besetzt als etwa „Verzicht“ oder „Enthaltsamkeit“ und rückt statt dessen vielmehr in die Nähe der Grenzen des Wachstums, die Dennis Meadows im Auftrag des Club of Rome 1972 erstmals prognostizierte und seither in zwei Updates wiederholt bestätigt hat: Alle errechneten Szenarien gehen davon aus, dass wir mit einem Überschreiten der Wachstumsgrenzen und einem anschließenden Kollaps bis spätestens 2100 rechnen müssen. Und wahrscheinlich wird alles noch sehr viel schneller gehen. Nicht wenige Beobachter sehen beim Klimawandel eine dynamischere Zuspitzung am Werk als vermutet. Sollen wir mit Jonathan Franzen also aufhören „uns etwas vorzumachen“ und uns eingestehen, „dass wir die Klimakatastrophe nicht mehr verhindern können“? Und wenn das so ist, was dann? Oder würde ein Systemwechsel in Form einer Abkehr vom marktradikalen Denken und einem radikalen Umbau der Volkswirtschaften diese Dynamik noch drosseln können?

Illichs Essay eignet sich besonders als Ankertext für die hier versammelten Lektüren. Der Originaltitel lautet Tools for conviviality. Die „Selbstbegrenzung“, die im deutschen Titel an so zentrale Stelle rückt, hat bei Illich eine kritische Reflexion der „Werkzeuge“ zum Gegenstand, die eine Gesellschaft bewusst wählen oder verwerfen sollte, und somit auch der Grenzen, die sie sich diesseits aller Machbarkeiten selber setzen kann, um sich wieder stärker dem anzunähern, was „leben“ eigentlich bedeutet.

  • Acosta, Alberto / Brand, Ulrich: Radikale Alternativen. Warum man den Kapitalismus nur mit vereinten Kräften überwinden kann
  • Acosta, Alberto: Buen vivir. Vom Recht auf ein gutes Leben
  • Arenz, Ewald: Alte Sorten [Roman]
  • Biagini, Cédric, Murray, David, Thiesset, Pierre (Hgg.): Aux origines de la décroissance [Notiz]
  • Bernanos, George: Les grands cimetières sous la lune
  • Camus, Albert: Discours de Suède
  • Charbonneau, Bernard / Ellul, Jacques: Nous sommes des révolutionnaires malgré nous. Textes pionniers de l’écologie politique
  • Franzen, Jonathan: Wann hören wir auf, uns etwas vorzumachen?: Gestehen wir uns ein, dass wir die Klimakatastrophe nicht verhindern können
  • Giono, Jean: Lettre aux paysans sur la pauvreté et la paix
  • Heckl, Wolfgang M.: Die Kultur der Reparatur
  • Hervé Gruyer, Charles und Perrine: Vivre avec la terre
  • Holzer, Sepp: Permakultur
  • Illich, Ivan: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik
  • Lessenich, Stephan: Grenzen der Demokratie. Teilhabe als Verteilungsproblem
  • Lessenich, Stephan: Neben uns die Sintflut. Die Externalisierungsgesellschaft und ihr Preis [Notiz]
  • Meyer, Kathrin / Weiss, Judith Elisabeth (Hgg.): Von Pflanzen und Menschen. Leben auf dem grünen Planeten
  • Minard, Céline: Le grand jeu / Das große Spiel [Roman]
  • Morizot, Baptiste: Sur la piste animale / Philosophie der Wildnis oder die Kunst, vom Weg abzukommen
  • Morizot, Baptiste: Manières d’être vivant
  • Paech, Niko: Befreiung vom Überfluss: Auf dem Weg in die Postwachstumsökonomie
  • Schmelzer, Matthias / Vetter, Andrea: Degrowth/Postwachstum zur Einführung [Notiz]
  • Stone, Christopher D.: Haben Bäume Rechte? Plädoyer für die Eigenrechte der Natur
  • Tesson, Sylvain: Sur les chemins noirs / Auf versunkenen Wegen
  • Thoreau, Henry David: Walden
  • Weil, Simone: L’enracinement
  • Zielke, Ann-Kathrin: Die erstaunlichen Kräfte der effektiven Mikroorganismen