Nils Minkmar: Das geheime Frankreich. Geschichten aus einem freien Land (2017)

Gerade rechtzeitig zur Buchmesse scheint sich Frankreich – diesmal Ehrengast – wieder ein wenig erholt zu haben. Nach schwierigen Jahren für die französische Wirtschaft mit steigenden Arbeitslosenzahlen, islamistischem Terror, einem bedrohlichen gesellschaftlichen Rechtsruck und unverkennbaren Dekadenzsymptomen der politischen Klasse hofft nun auch Nils Minkmar – Kulturjournalist mit deutsch-französischem Pass – auf Besserung und freut sich im Epilog seines neuen Buches über den mit Emmanuel Macron aufkommenden Rückenwind für Europa.

Geschickt wählt Minkmar den Begriff des Geheimnisses, um sich seinem Thema anzunähern. Denn neben dem schlichten Geheimtipp (ein Restaurant, eine Lektüre, ein neuer Trend) assoziiert dieser Begriff auch das private Familiengeheimnis und im weitesten Sinne natürlich all das, was sich unter der Oberfläche verbirgt und auf die Ambivalenzen von Sein und Schein verweist. Entsprechend vielschichtig sind die Geheimnisse, die Minkmar uns in seinem Buch enthüllt. Als Sohn eines Deutschen und einer Französin bringt er seine geballte persönliche Erfahrung ein, um uns die französische Gegenwart in ihrer gesellschaftlichen Verwurzelung nahezubringen. Im Versuch, das Private exemplarisch werden zu lassen fürs Große Ganze kann Minkmar allerdings nicht durchgängig überzeugen: Da muss dann die Oma schon mal herhalten als Exempel für ein frühes Matriarchat oder für die schreibende Selbstkonstitution des französischen Subjekts. In jedem Fall finden sich die persönlichen Beobachtungen humorvoll eingebunden in Analysen politischer, gastronomischer, wissenschaftlicher und literarischer Natur.

Sein, Schein und Verdrängung

Geheimnis ist für Minkmar zunächst einmal all das, was in den Kellergewölben kartesischer Rationalität mit ihrem Hang zur Ordnung, Klassifizierung und systematischen Beherrschung lagert: die konservierten Missbildungen in der verborgenen Kammer des naturkundlichen Museums von Bordeaux, die immer noch verdrängten historischen Schuldgefühle zum Thema Kolonialismus und Kollaboration während des Zweiten Weltkriegs, aber auch die Keimzellen anarchistischer Freiheit, die sich unter dem Deckmäntelchen kultivierter Diskretion überhaupt erst Bahn brechen mussten:

Ist es verwunderlich, dass sich die kulturhistorisch bedeutenden Arbeiten französischer Intellektueller nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Dekonstruktion von Diskursen beschäftigten? Mit der Gewalt der Klassifizierung, Benennung und Aufteilung? Seit den fünfziger Jahren hat Paris eine Epidemie des Genialen erlebt: Derrida, Barthes, Foucault, Deleuze und Bourdieu – ihnen war gemein, nach dem zu suchen, was der Diskurs verbirgt.

Dieses rebellische Bedürfnis nach Enthüllung steht in paradoxem Widerstreit zur Bedeutung, die in Frankreich seit Jahrhunderten dem Prinzip der Repräsentation zukommt. Denn dass der kultivierte Diskurs alles Unschöne, Unanständige und Vulgäre der menschlichen Natur verbirgt, macht ja französische Lebensart nicht minder aus. Nicht alles muss beim Namen genannt und schon gar nicht offen und tabulos diskutiert werden:

Ist jemand ernsthaft erkrankt, spricht man davon, dass er müde sei, ‚fatigué‘. Die Steuerfahndung klingelt schon, Gefängnis droht – diese Person steht gegenwärtig in heikler Beziehung zum Fiskus: ‚en délicatesse‘. Eine Person hört Stimmen, tobt, würgt eine Mitarbeiterin oder zertrümmert einen Blumentopf auf dem Schädel der greisen Nachbarin – dieser Mensch ist nicht etwa kriminell oder wahnsinnig, er durchleidet eine ‚bouffée délirante‘, eine psychotische Episode, wie sie in jedem Leben halt mal vorkommen kann. Es gibt zur Behandlung hervorragende Villen im Grünen, sehr diskret.

Das tiefe Vertrauen der Französinnen und Franzosen in die gestaltende Kraft des schönen Scheins hat auch mich immer schon fasziniert. Und es lässt mich unweigerlich daran denken, dass die französische Filmtradition als Therapie zur Bewältigung kartesisch verdrängter Seelenabgründe lesbar ist: Chabrol, Godard, Truffaut, später auch Ozon und Haneke inszenieren auf der Leinwand die Auswirkungen all dessen, was sich (nicht nur) in der französischen Psyche angestaut hat. Ein Kapitel, das Minkmar in seinem Buch leider gänzlich ausspart.

Schwieriges Gedenken

Auch die Frage nach der Aufarbeitung der Schattenseiten historischer Vergangenheit ist meiner Wahrnehmung nach im Bereich von Literatur und Film schon weiter fortgeschritten als der Autor es uns glauben macht. Man denke an Irène Némirovskys spät wiederentdeckte und 2004 mit großem Aufsehen veröffentlichte Suite Française (1942), an Louis Aragons Le collaborateur (1945), an Godards Le petit soldat (1960) an Malle/Modianos Lacombe Lucien (1974), Philippe Grimberts Un secret (2004) oder Michael Hanekes Caché (2005) – alles Werke, die die gesellschaftlichen Verwerfungen während der Phase der deutschen Besatzung oder des Algerienkriegs differenziert beleuchten und deshalb in ihrer Entstehungszeit teils auch Schwierigkeiten mit der Zensur hatten. Eine wahre Fundgrube wäre das für Minkmars Geheimniskrämerei!

Wohl zurecht beklagt der Autor eine immer noch selektive Ausrichtung der öffentlichen Gedenkkultur und verweist auf das politische Konfliktpotential, das dieses Thema nach wie vor birgt:

Diese Themen, die deutsche Besatzung, der kalte Krieg und die Kolonialkriege bilden einen Komplex, der bis heute dazu dient, die politische Landschaft zu ordnen wie ein Magnetfeld. Und der auf umständliche Art weiterhin unterhalten wird als ein Thema, das nicht zu lösen ist und von dem man sich besser abwendet, wenn man einmal seinen festen Standpunkt dazu geäußert hat.

Hier mag man ihm zustimmen. Seine Forderung nach Ausstellungen vom Kaliber der „Verbrechen der Wehrmacht“ mutet hingegen sehr deutsch an und man fragt sich, ob sie wirklich mit dem vereinbar ist, was er der französischen Gesellschaft in anderen Bereichen attestiert, nämlich ihren Hang zum Understatement.

In dem mit Notre Dame überschriebenen interessantesten Kapitel seines Buches spürt der Journalist leisen, oft noch wenig beachteten Trends nach, die zuversichtlich stimmen können: Vorzeichen eines allmählichen gesellschaftlichen Aufbruchs und der Überwindung traditionell festgefahrener Strukturen. Dabei begegnet er jungen Wissenschaftlerinnen wie der Philosophin Cynthia Fleury oder der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, die innerhalb und neuerdings auch außerhalb der etablierten akademischen Strukturen alternative Wege gehen. Fleury mit ihrem Versuch, die Medizin wieder mit den Humanwissenschaften zu versöhnen und die Philosophie als Therapie auch in räumliche Nähe zum leidenden Subjekt zu bringen. Entsprechend trifft Minkmar sie nicht in einem der ehrwürdigen Pariser Universitätsgebäude, sondern in ihrem wenig repräsentativen Büro direkt im Krankenhaus Hôtel Dieu. Savoy hingegen versucht sich an einer wissenschaftlichen Neudefinition des Umgangs nicht nur mit der Geschichte der europäischen Museen, sondern auch der Behandlung eben derjenigen französischen Geschichtskomplexe, deren potenzielle Verdrängung Minkmar im ersten Kapitel diagnostiziert. Sie lehrt übrigens auch in Berlin und machte dort jüngst von sich reden, weil sie dem Humboldt-Forum „totale Sklerose“ im Bereich Transparenz, Teamgeist und Verantwortung vorwarf.

Die Zukunft ist weiblich

Als Hauptakteurinnen des gesellschaftlichen Wandels sieht Minkmar die Frauen, deren Rolle in Frankreich traditionell ambivalent ist. Einerseits tritt die Französin dank ihrer selbstverständlichen Berufstätigkeit schon lange weitaus emanzipierter auf als die deutsche Frau. Andererseits feiert ein in Frankreich historisch tief verwurzelter Sexismus gerade im politischen Milieu nach wie vor fröhliche Urständ. Minkmar analysiert scharfsinnig die Zusammenhänge und ärgert sich dabei über das verkorkste Verhältnis der Franzosen zu ihrer eigenen intellektuellen Tradition, der sie oft selbst nicht gewachsen sind: Während jedes Jahr Tausende zum Grab Simone de Beauvoirs pilgern, der großen Ikone der Frauenbewegung, findet zugleich diejenige gesellschaftliche Strömung scharenweisen Zulauf, die die Frau am liebsten wieder zurück an den Herd schicken würde:

Die Demonstrationen gegen die gleichgeschlechtliche Ehe [2012] wurden zum sozialen Ventil einer vor allem durch den Feminismus empfundenen Kränkung. Dass wesentliche Ideen sowohl der Gender Studies als auch der emanzipatorischen Frauenbewegung auf die Heilige Simone zurückgehen, wird dabei geflissentlich vergessen, denn gegen die Ikone im Grab Nummer eins [auf dem Friedhof Montparnasse] traut sich kaum jemand, das Wort zu ergreifen.

Ob man in Anne Hidalgo, der umtriebigen Bürgermeisterin von Paris und in der beeindruckenden französisch-guyanesischen Ex-Justizministerin Christiane Taubira tatsächlich Vorbotinnen der von Minkmar beschworenen, „dringend benötigten feministischen Renaissance der französischen Kultur und Politik“ sehen kann, bleibt abzuwarten. In jedem Fall dürften sich die Französinnen über so viel Schützenhilfe von männlicher Seite freuen.

Unter der „Freiheit“, die Minkmar im Untertitel seines Buches erwähnt, versteht er übrigens eine spezifische Form der inneren Freiheit, die darin besteht, sein Leben unabhängig von äußeren Umständen kreativ und erfüllend zu gestalten. Es geht ihm um Lebenskünstler wie seinen älteren Großcousin, der als Lehrer im gesellschaftlich nicht unproblematischen Süden lebt und arbeitet, damit verbunden aber auch um ein Land, das seinen Bürgern genug Raum lässt für freie Selbstentfaltung. Doch man fragt sich, wie es in Frankreich derzeit wirklich steht um liberté, égalité, fraternitésécurité? Die momentan unter dem Stichwort der inneren Sicherheit sehr kontrovers geführten Diskussionen um eine zunehmende Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten in Zeiten des Terrors spielen in Minkmars Überlegungen jedenfalls keine Rolle. Aber vielleicht kann ja auch Freiheit zur ästhetischen Option eines faisons comme si… werden, und damit zu einem ganz persönlichen Geheimnis.

Alles in allem ein wohltuend optimistisches Buch.


Nils Minkmar: Das geheime Frankreich. Geschichten aus einem freien Land

Fischer 2017 / 208 Seiten / ISBN: 978-3103972955