Irène Némirovsky : Suite française (2004)

Selten dürfte es in der Literaturgeschichte vorgekommen sein, dass eine Schriftstellerin gleich zweimal über Nacht berühmt wurde: in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts und siebzig Jahre später noch einmal posthum: 2004 taucht Irène Némirovskys unveröffentlichtes Romanfragment Suite française von 1942 auf wie Flaschenpost aus einer anderen Zeit und konfrontiert Frankreich mit einem der dunkelsten Kapitel seiner eigenen Vergangenheit.

Irène Némirovsky wurde als Tochter einer jüdischen Bankiersfamilie 1903 in Kiev geboren. Antijüdische Pogrome zwangen sie zur Flucht und zu Aufenthalten in Russland, Finnland und Schweden. Ab 1919 ließ sie sich mit ihrer Familie dauerhaft in Paris nieder. Sie sprach fließend mehrere Sprachen, schrieb jedoch ausschließlich in Französisch.

Ende der 20er Jahre veröffentlichte Grasset ihr erstes Buch, David Golder, eine explosive Abrechnung in Romanform mit eben jenem jüdischen Finanzmilieu, dem sie selbst entstammte und in dem sie sich durch ihre Heirat mit Michel Epstein 1926 auch fest etabliert hatte. Der geschäftlich erfolgreiche osteuropäische Jude, der seine ärmliche Herkunft dennoch nie abstreifen kann, wird von nun an zu einem konstanten Motiv ihres Schreibens. Bis zum Einmarsch der Deutschen 1940 veröffentlichte sie zehn Romane und zahlreiche Kurzgeschichten und wurde mit ihnen zur großen Society-Autorin im Paris der 30er Jahre. Und doch kam sie nie über den Status einer Auslandsjüdin hinaus. In einer Zeit, in der Frankreich mehrere Immigrationswellen osteuropäischer Juden erlebte, blieb ihr trotz wiederholter Anträge die französische Staatsbürgerschaft verwehrt.

Was die zeitgenössischen Leser faszinierte, war die Energie von Némirovskys Stil, aber auch eine für schreibende Frauen ungewöhnlich Brutalität in der Wahl ihrer Sujets. Der Verdacht antisemitischen Selbsthasses, in den sie vor allem in eigenen Kreisen geriet, wird jedoch umso absurder, je näher die nationalsozialistische Bedrohung rückt. Nach 1933 gesteht sie, dass sie die Darstellung David Golders erheblich abgeschwächt hätte, wäre ihr die Bedrohung, die von Hitler für die Juden ausging, damals schon bewusst gewesen.

Nahezu selbstmörderisch weigert sie sich, während der Okkupation Paris zu verlassen und liefert sich dadurch dem nationalsozialistischen Terrorregime regelrecht aus. Sie und ihr Mann werden 1942 von der Gestapo verhaftet, deportiert und in Theresienstadt ermordet.

Es ist eine abenteuerliche Mischung aus Dichtung und Wahrheit, was man sich über das Geschick jenes Romanfragments erzählt, das Némirovsky 1941/42, als die Katastrophe schon hereinbricht, in fieberhafter Eile noch zu Papier gebracht hatte: In der Obhut Julie Dumots, einer vertrauten Sekretärin der Familie, seien die beiden kleinen Töchter Denise und Elisabeth zunächst im Dorf Issy-l‘Évêque abgetaucht und hätten dann – das Manuskript unterm Arm – verschiedene Stationen der Flucht durchlaufen. Tatsächlich hatte Dumot das Dokument beim örtlichen Notar hinterlegt. Die Tatsache, dass es nach sorgfältiger Editionsarbeit erst über ein halbes Jahrhundert später der Öffentlichkeit vorgelegt wurde, hat mit privaten Gründen ebenso zu tun wie mit dem besonderen verlegerischen Gespür für den rechten Augenblick, das Némirovskys ältere Tochter hier bewies; denn Frankreich musste für dieses Buch erst reif werden.

Sehr spät – im Jahr 1995 – hatte Präsident Chirac ein Mitwirken Frankreichs an den Verbrechen des Nationalsozialismus erstmals öffentlich eingestanden. Mit zeitlichen Abstand begann man nun, sich mit der eigenen Kollaborationsvergangenheit selbstkritischer auseinanderzusetzen. Verstärkt wurde diese Entwicklung ab den 00er-Jahren durch das Bewusstsein, dass die Zeitzeugen allmählich am aussterben waren und die nachfolgenden Generationen zunehmend auf Rekonstruktionen der Geschehnisse angewiesen sein würden.

Dass in einer solchen Phase das Auftauchen eines authentischen Zeitzeugendokuments im positiven Sinne Aufsehen erregt, verwundert nicht. Und doch ist es ein unbequemes Spiegelbild, was Némirovsky den Franzosen da vorhält, wenn nicht sogar eine persönliche Abrechnung mit dem Land, in dem sie seit über zwei Jahrzehnten lebte und das ihr beharrlich das Recht auf Heimat verweigerte. Bitter droht sie in ihren handschriftlichen Notizen über die Lage Frankreichs und ihr Projekt Suite française: „Mein Gott ! Was tut dieses Land mir an? Lasst es uns kalt betrachten, da es mich ablehnt, lasst uns zusehen, wie es seine Ehre und sein Leben verliert“ (meine Übers.).

Aufzeichnungen belegen, dass Suite française als fünfbändiges Epos über das Frankreich des Zweiten Weltkriegs geplant war. Némirovsky schaffte nur die ersten beiden Bücher. In Tempête en juin (Sturm im Juni) schildert sie in tableauartigen Szenen den dramatischen Exodus der Pariser Bevölkerung unmittelbar nach Einmarsch der Deutschen. Dolce handelt vom Okkupationsalltag eines Dorfes in Burgund im Jahr 1941 und weist deutlichere Züge einer Romanhandlung auf.

Was ist das Besondere an diesem Buch, der großen Ausnahme im némirovskyschen Werk, in dem es einmal nicht um Juden geht? Die schonungslose Darstellung des Verlustes menschlicher Contenance in einer unerwarteten Extremsituation, wie es so oft heißt? Wohl nur zum Teil. Für mich ist es eher seine ungeheure Sprengkraft. Was Némirovsky in diesem Roman zum Einsturz bringt wie ein Kartenhaus ist das Selbstbild einer Gesellschaft, deren Werte längst schon von innen ausgehöhlt sind. Mit durchdringendem Blick und teils bitterer Bosheit lässt sie die Risse im gesellschaftlichen Gefüge aufbrechen und daraus die Symptome des Niedergangs hervortreten – nicht nur des alten Adels, sondern auch des Bürgertums, das durch den Kapitalismus reich geworden ist, inklusive einer Kunst, die sich in ihrer Selbstverliebtheit dem Geld prostituiert.

Sturm im Juni

Schon in den Vorkriegsjahren hängt der gesellschaftliche Zusammenhalt Frankreichs nur noch am seidenen Faden. Zu tief sind die Gräben, die 150 Jahre nach der französischen Revolution Adel, Bourgeoisie, Arbeiter und Bauern noch immer voneinander trennen. Auf den Fluchtrouten aus Paris, den breiten, aus der Hauptstadt herausführenden Landstraßen, treibt Némirovsky all diese so unterschiedlichen Figuren zusammen: Kunstsammler, die einfachen Leuten im Wald ihr Benzin stehlen. Bankdirektoren, die ihrer Geliebten vor Abreise schnell noch den Laufpass geben. Fabrikarbeiter beim Mundraub an einem fetten Schriftsteller. Bourgeoiser Standesdünkel auf Autopilot. Die einen zu Fuß, mit Fahrrad oder Handkarren, die anderen mit Autos, die so schick sind, dass sie bei all dem Gedränge schon mal unvermittelt im Straßengraben landen. Genüsslich lässt sie in Landgasthöfen, auf Feldwegen und im Wald all die explosiven Spannungen hochkochen, die diese Gesellschaft längst schon innerlich spalten, mal mehr mal weniger laut.

In den Péricands verdichtet sich all das, was die französische Haute Bourgeoisie in ihrem Kern ausmacht: ererbter Reichtum, Konservatismus, eine bigott-kalkulierende Nähe zur katholischen Kirche und ein gesundes Maß an politischer Anpassungsfähigkeit: Bei allem Misstrauen gegen die Regierung ist Adrien Péricands Stellung als Konservator eines Nationalmuseums dann doch ein hinreichender Grund dafür, sich mit der Dritten Republik abzufinden. Ansonsten erfährt man nicht viel über diesen „kleine[n] rundliche[n] Mann von sanftem, ein wenig linkischem Wesen.“ Er selbst wird beim Exodus nicht dabei sein und statt dessen „nicht ohne Würde“ das Los der ihm anvertrauten musealen Schätze teilen. Némirovsky lässt ihn nach wenigen Seiten gänzlich aus dem Roman verschwinden. An seiner Statt vertieft sie die männliche Linie der Péricands chronologisch über drei andere Figuren, nämlich Adriens greisen Vater sowie die Söhne Philippe und Hubert. Der Zerfall des bürgerlich-patriarchalen Ideals lässt sich somit über drei Generationen hinweg verfolgen.

Auf der Flucht wird Adriens Ehefrau, die 47-jährige Charlotte Péricand, den gesammelten Standesdünkel in weiblicher Variante verkörpern, als fünffache Mutter, treu sorgende Schwiegertochter und Herrin über einen ganzen Stab von Dienstboten. Den kleinen tyrannischen Anwandlungen des greisen „bon papa“, der seinen körperlichen Machtverlust durch eine gewisse Flexibilität im Bereich täglich sich wandelnder testamentarischer Willensbekundungen zu kompensieren sucht, kann sie gelassen begegnen:

M. Péricand avait crée dans son âge mûr des œuvres philanthropiques dont l’une surtout lui tenait à cœur : celle des Petits Repentis du XVIe, cette admirable institution dont le but est de relever moralement les mineurs compromis dans des affaires de mœurs. Il avait été toujours entendu qu’à sa mort le vieux M. Péricand laisserait une certaine somme à cette organisation, mais il avait une manière assez irritante de ne jamais en préciser le montant. Lorsqu’un plat lui avait déplu ou que les enfants faisaient trop de bruit, il s’éveillait tout à coup de sa torpeur et prononçait d’une voix faible mais distincte : « Je léguerai cinq millions à l’œuvre. »

Un pénible silence suivait. […]

Charlotte avait beaucoup de tact. Elle ne s’écriait pas comme une autre aurait pu le faire : « Vous avez bien raison, mon père », d’une voix douce elle répondait : « Vous avez bien le temps d’y penser, mon Dieu ! » (44 f.) (Übersetzung)

Das Gesamtvermögen der Familien Péricand und Maltête-Lyonnais ist zu groß, als dass man auf bon papas Erbe angewiesen wäre. Nur einmal wird der alte Patriarch noch Gelegenheit haben, seine Dominanzgelüste auszuleben, nachdem der motorisierte Familientross ihn bei all dem Fluchttrubel in einem Gasthaus vergisst. Nach einem Luftangriff muss er aus dem brennenden Haus evakuiert werden und kann dem eilends bestellten Dorfnotar im geifernden Machtdelirium schnell noch seinen letzten Willen diktieren. Es ist nicht nur das Ableben des alten Péricand, sondern die Agonie des großbürgerlich-patriarchalen Autoritätsgebarens, was Némirovsky hier in Szene setzt. Ob es dem Sohn Adrien gelingen wird, zusammen mit seinen musealen Bildern auch dieses bürgerliche Patriarchat für die Nachkriegszeit zu konservieren, bleibt offen. Interessant sind jedenfalls die Entwicklungen, die dieses Ideal am Beispiel der Enkel Hubert und Philippe in seinen zwei klassischen Ausprägungen nehmen wird: der geistlichen und der militärischen Laufbahn.

Zum Leidwesen der ambitionierten Charlotte Péricand hat ihr spirituell veranlagter Ältester Philippe sich schon früh gegen eine institutionelle kirchliche Karriere entschieden und statt dessen den Weg eines einfachen Landgeistlichen eingeschlagen. Der Einmarsch der Deutschen führt ihn im vierten Kapitel nach Paris, zum karitativen Werk der „Kleinen Büßer“ seines Großvaters, wo er sich bereit erklärt, die Jugendlichen zu Fuß auf ihrer Flucht nach Osten zu begleiten.

Némirovsky entlarvt die in einem der vornehmsten Pariser Viertel gelegenen Petits Repentis als eine Form der Wohltätigkeit gegenüber benachteiligten Klassen, die völlig ins Leere läuft, weil sie zu einer bloßen Facette bürgerlicher Selbstinszenierung verkommen ist. Die bessere Gesellschaft sonnt sich hier im Nimbus der eigenen Philanthropie. Selbstgerechte Machbarkeitsphantasien gehen Hand in Hand mit dem Anliegen der Damen, solche Einrichtungen als Bühne musischer Selbstentfaltung zu missbrauchen. Charlotte Péricand etwa organisiert „zweimal im Jahr für diese Unglücklichen klassische Konzerte“ und spielt dabei selbst Harfe, um dann an manchen Stellen „im Dunkel des Saals ein Schluchzen“ vernehmen zu wollen.

Es verwundert also nicht, wenn diese missratenen Kinder aus den untersten gesellschaftlichen Schichten solch zweifelhaftem Bemühen gegenüber unerreichbar bleiben und ihren vermeintlichen Wohltätern nur mit Misstrauen und Feindseligkeit begegnen. Gerade in der Unfähigkeit des Geistlichen, diesen Mangel als soziologisch bedingt zu begreifen – Philippes religiöser Horizont kennt nur die Kategorie der göttlichen Gnade – liegt letztlich die Tragödie seines eigenen Scheiterns:

Une expression de sévérité et de tristesse parut sur son visage, toutes deux dirigées contre lui-même, son propre cœur. Il n’aimait pas ces malheureux enfants. Il s’approchait d’eux avec douceur, avec toute la bonne volonté dont il était capable, mais en leur présence il ne sentait que de la froideur et de la répugnance, aucun jaillissement d’amour, rien de cette palpitation divine qu’éveillaient les plus misérables pécheurs implorant grâce. Il y avait plus d’humilité dans les fanfaronnades de tel vieil athée, de tel blasphémateur endurci que dans les paroles ou dans les regards de ces petits. Leur apparente docilité était affreuse. Malgré le baptême, malgré les sacrements de la communion et de la pénitence, aucun rayon sauveur ne venait jusqu’à eux. (61) (Übersetzung)

Diese Gruppe verlorener Seelen wird also mit Philippe an der Spitze die Flucht antreten. Nach stundenlangem Fußmarsch wird man im Park eines verlassenen Schlosses Halt machen, um dort zu übernachten. Dass Philippe nach einer tumultartigen Randale seiner Schützlinge inmitten des Luxus gewaltsam zu Tode kommt – gesteinigt und im Schlossteich versenkt – zeugt noch nicht vom Horror des hereinbrechenden zweiten Weltkriegs, es lässt vielmehr die schlimmsten Alpträume revolutionären Terrors gegen die alte Allianz von Adel und Kirche wieder aufleben, eine Allianz, der sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts auch die aufstrebende Bourgeoisie der Péricands verbunden sieht. Nicht zum ersten Mal in der französischen Geschichte ist das Bündnis von Macht und Religion hier in einer Sackgasse angelangt. Philippe Péricand muss im Roman einstehen für dieses Scheitern.

Ganz anders der achtzehnjährige Hubert. Im Vergleich mit dem älteren Bruder ist er die weitaus ambivalentere Figur, ein Schulversager und Einzelgänger, frei flottierend zwischen der romantischem Kriegsschwärmerei eines stendhalschen Julien Sorel und der antikonformistischen Aufsässigkeit eines André Gide. „Familien, ich hasse euch“, schrieb Gide 1897 in Les nourritures terrestres, nachdem ihm zwei großen Algerienreisen geholfen hatten, sich der Enge des familiären Moralkodex zu entwinden. Auch Hubert will raus aus dem bürgerlichen Mief, am besten sofort an die Front. „Familles, je vous hais“ ruft auch er jetzt innerlich. Auf der Flucht will er sich dann heimlich absetzen, zusammen mit René, diesem „neuen Kameraden, der Ruhm und Gefahren mit ihm teilen würde“ und dem er sich „mit außerordentlicher Leidenschaft und Zärtlichkeit verbunden“ fühlt.

Doch vorerst geht alles schief: René erscheint nicht zum vereinbarten nächtlichen Treffpunkt. Die bittere Realität an der Rückzugsfront, wo man für den unerfahrenen Hubert keine Verwendung mehr findet, spült ihn zurück auf die Fluchtrouten und von dort direkt in den Schoß Arlette Corails, der ausrangierten Geliebten des Pariser Bankdirektors Corbin. In ganz und gar bürgerlicher Manier darf Hubert hier nun doch noch ‚zum Mann’ werden. Wenige Tage später wird er wohlbehalten wieder zur Familie stoßen, die sich inzwischen bei Charlottes Mutter in Nîmes eingefunden hat.

Dennoch: Scham und Wut sind Gefühle, die Hubert bleiben, wenn er zurückdenkt an all die unrühmlichen Szenen der Flucht, die man für immer unter den Teppich kehren oder schönreden wird. Némirovsky hätte noch viel mit ihm vorgehabt. Aus ihren Aufzeichnungen geht hervor, dass er sich später der Résistance anschließen sollte. Ob sie eine weitere Begegnung mit dem blonden René zugelassen hätte und ob Huberts Widerstand dann so weit gegangen wäre, mit André Gide auch die heterosexuelle gesellschaftliche Norm in Frage zu stellen, wird wohl für immer Némirovskys Geheimnis bleiben.

Von Charlotte und Adrien Péricand wären nach dem 30. Juni 1940 vermutlich keine großen Überraschungen mehr zu erwarten gewesen: Nahezu alles prädestiniert sie dafür, ihr Schicksal in die Hände einer rettenden Vaterfigur wie Philippe Pétain zu legen und willig mit den Deutschen zu kollaborieren wie so viele ihrer Landsleute: „Famille, travaille, patrie!“ heißt ab jetzt die Devise.

Dolce

Schauplatz des zweiten Teils ist das kleine Dorf Bussy im Département Saône-et-Loire. Hier wirkt nicht mehr das Fluchtgeschehen, sondern die deutsche Besatzung selbst als Katalysator latenter gesellschaftlicher Spannungen. Der selbstbewusste Einmarsch der jungen deutschen Soldaten in ihren schneidigen Uniformen wird schleichend einen Keil zwischen Mütter und Töchter treiben, den bäuerlichen Hausfrieden bedrohen und dem Adel eine Willfährigkeit abtrotzen, die das Verhältnis zu seinen ländlichen Pächtern vollends vergiftet.

Es ist eine Mischung aus Neugier und Misstrauen, mit dem die Bevölkerung den Besatzern begegnet. Die Demütigung der Niederlage sorgt zunächst dafür, dass immer wieder kleine Triumphe gefeiert werden, wenn man einen „boche“ auf dem Markt übers Ohr hauen kann. Doch allmählich gewöhnt man sich aneinander, wird mit den fremden Namen und Eigenheiten vertraut.

Dass der Unfriede im Inneren der Landbevölkerung ohne böswilliges Zutun der Besatzer aufkommt, ja dass diese sich fast durchweg tadellos benehmen und mit Bildung und künstlerischem Feinsinn brillieren, ist frappierend, wenn man Némirovskys eigene akut bedrohte Lebenssituation vor Augen hat. Der einzige deutsche Soldat, dem ausdrücklich Grausamkeit und Sadismus bescheinigt werden – bei gleichzeitig ausgeprägtem Verständnis für bildende Kunst – wird im nächsten Satz schon wieder rehabilitiert: „Es war die Grausamkeit der Jugend, diejenige, die einer sehr lebhaften, empfindsamen Einbildungskraft erwächst und ganz und gar sich selbst, der eigenen Seele zugewandt ist; man bemitleidet andere nicht ob ihres Leidens. Man sieht sie nicht, man sieht nur sich selbst“. Handelt es sich hier um Verdrängung oder um Ironie, um eine Wunschvorstellung der Autorin oder um historische Tatsachen? Dass vor allem den jungen Frauen in Dolce der fremde Besuch nicht ungelegen kommt, verweist auch auf ein strukturelles Problem, nämlich die mangelnde Tragfähigkeit des großbürgerlich-provinziellen Lebensentwurfs selbst. Hier kann Némirovsky direkt anknüpfen an die literarische Tradition des französischen Naturalismus, insbesondere an Flauberts Madame Bovary.

Zusammen mit ihrer Schwiegermutter bewohnt Lucile Angellier seit Monaten alleine das große Herrenhaus mit stattlichem Garten. Dörfliche Enge, Gerüchte und soziale Kontrolle bestimmen den Alltag. Lektüre ist unerwünscht. „Dieser Ort ist wie ein Grab … Nein! … Ein Grab auf einem Dorffriedhof voll von Blumen, Vögeln und lieblichen Schatten, aber dennoch ein Grab … Wie können Sie das ganze Jahr hier leben?“ wird der im Haus einquartierte Leutnant von Falk Lucile einmal fragen. Das Leben der Schwiegermutter erschöpft sich in Trauer um das ungewisse Schicksal des Sohnes in deutscher Gefangenschaft, ein Gefühl, das Lucile nur schwer teilen kann, denn ihre Zuneigung zu Gaston, an den eine Vernunftehe sie bindet und der sie längst schon betrügt, ist mehr als begrenzt. Und doch wird mit dem Motiv des Ehebruchs nur gespielt, jedoch in einer Weise, die raffinierter nicht sein könnte. Eine der entscheidenden Begegnungen zwischen Lucile und von Falk erleben wir aus der Perspektive eines kleinen Mädchens:

Ses yeux noirs, à la fois futés et innocents, ne quittaient pas les grandes personnes. Elle regardait Lucile avec curiosité et aussi avec un certain esprit critique : un regard de femme à femme. « Elle a l’air d’avoir peur, pensait-elle. Je me demande pourquoi elle a peur. Il n’est pas méchant, l’officier. Je le connais bien, il me donne des sous, et l’autre fois il a pris mon ballon qu’était resté dans les branches du grand cèdre. Qu’il est beau cet officier ! Il est plus beau que papa et que tous les garçons du pays. […]

L’Allemand et la dame parlaient à voix basse. Lui aussi, il était blanc comme un linge maintenant. Par moments, elle entendait sa voix stridente retenue, comme s’il avait envie de crier ou de pleurer et n’osait pas le faire. Ses paroles n’avaient pour la petite fille aucune signification. Elle comprit vaguement qu’il parlait de sa femme à lui et du mari de la dame. Elle entendit qu’il répétait plusieurs fois : « Si encore vous étiez heureuse… Je sais comment vous vivez… Je sais que vous êtes seule, que votre mari vous délaissait… J’ai fait parler les gens du pays. » Heureuse ? Elle n’était donc pas heureuse la dame qui avait de jolies robes, une belle maison ? En tout cas, elle ne tenait pas à être plainte, elle voulait s’en aller. Elle lui commandait de la laisser et de se taire. Ma foi, elle n’avait plus peur, c’était lui plutôt, malgré ses grandes bottes et son air fier, qui semblait tout intimidé. (425 f.) (Übersetzung)

Wer ist dieses unschuldige kleine Mädchen mit der vermeintlich naiven Sicht, das gerade noch mit den anderen Dorfkindern in den Obstbäumen saß? Die Schlange im Garten Eden? Eine Verführerin zur horizontalen Kollaboration? Nicht wenige Französinnen mussten nach 1944 für ihre Beziehung zu deutschen Soldaten bitter bezahlen. Das öffentliche Scheren der Haare und ein damit verbundener Ausstoß aus der Gemeinschaft sollten die Konsequenz neu erstarkender nationalistischer Männerphantasien der Nachkriegszeit sein. Doch so weit wird Lucile es nicht kommen lassen. Die wahre Kollaboration findet anderswo statt.

Der Vicomte und die Vicomtesse de Montmort sind Herren über die Ländereien um Bussy. Zahlreiche Pächter stehen in ihrer Pflicht und in manchen Bauernfamilien sitzt der alte Hass auf die ausbeuterischen Praktiken der Montmorts seit Generationen tief. Doch dieser Hass ist gegenseitig. Beim Adel gründet er in einer ebenso tief sitzenden Angst vor dem Aufstand der Knechte. Und diese Angst hat einen Namen: „Was für ein Mensch! Was für schändliche Leute! Genau das ist der Bolschewismus, genau das! Mein Gott! Was ist bloß aus dem Volk geworden!“ ruft die Vicomtesse verzweifelt, nachdem sie den jungen Benoît Labarie beim Maisdiebstahl auf ihrem Grundstück erwischt. Der seit der russischen Revolution verstärkte Druck von links ist es, der den Adel seinen massiven Deutschenhass aus der Vorkriegszeit fast vergessen lässt:

Oui, la vicomtesse de Montmort en était venue à se demander s’il ne fallait pas remercier le Bon Dieu d’avoir permis l’entrée des Allemands en France. Non qu’elle les aimât, Seigneur ! Elle ne pouvait les souffrir, mais sans eux… qui sait ?… Amaury avait beau lui dire : « Des communistes, les gens d’ici ? Mais ils sont plus riches que vous… » Ce n’était pas seulement une question d’argent ou de propriétés, mais aussi, mais surtout de passion. Elle le sentait confusément sans parvenir à l’expliquer. Peut être n’avaient-ils qu’une notion confuse de ce qu’était réellement le communisme, mais il flattait leur désir d’égalité, désir que la possession de l’arent et des terres exaspérait au lieu de combler. (445) (Übersetzung)

Es ist nur zum Teil ein ideologischer Schulterschluss, vor allem aber eine Kollaboration im Dienst der Besitzstandswahrung, worauf breite Kreise des  französischen Adels sich dann doch sehr schnell einlassen. Entsprechend wird die von De Gaulle aus dem Londoner Exil initiierte Résistancebewegung auch hauptsächlich von den Schichten getragen werden, die nichts mehr zu verlieren haben: Arbeiter, Bauern, Verfolgte und Intellektuelle. Benoît Labarie muss diesen Weg gehen, denn aus Eifersucht hat er den bei ihm einquartierten deutschen Soldaten erschossen. Es ist der einzige tödliche Schuss, der in Dolce fällt. Die Flucht führt ihn nach Paris, wo er sich einem Kreis von linken Widerständlern anschließen wird. Dann verliert sich die Spur der Aufzeichnungen im Nichts.

Zwei Tage vor ihrer Verhaftung, am 13. Juli 1942, schreibt Némirovsky an ihren Freund André Sabatier: „Ich gehe davon aus, dass es posthume Arbeiten sein werden. Aber wenigstens lässt das die Zeit vergehen“.

 

Dieser Beitrag ist Teil des Grabungsfelds Drôle de guerre

Irène Némirovsky : Suite française

Französisch / Gallimard, éditions folio 2006 / 576 Seiten / ISBN: 978-2070336760

Deutsch von Eva Moldenhauer / btb 2007 / 510 Seiten / ISBN: 978-3442736447