Fernando Aramburu: Patria (2016)

Mit den Ereignissen des 8. April 2017 – der Auslieferung der letzten Waffen der ETA an die französische Justiz – endet offiziell die Ära des baskischen Terrorismus, der zwischen 1968 und 2010 in Spanien über 800 Gewaltopfer forderte, die meisten davon im Baskenland selbst. Und wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass dieses Finale mit einem beispiellosen literarischen Erfolg einhergeht: Fernando Aramburus Roman Patria wurde seit dem 20. September 2016 über 270.000 Mal verkauft und erscheint im spanischen Verlag Tusquets ein gutes halbes Jahr später bereits in der 16. Auflage.Dass der große Roman über den baskischen Terrorismus so lange auf sich warten ließ, erklärt die Fiktion selbst: Als Gorka, der sprachbegabte, sensible jüngere Bruder des ETA-Terroristen sein Talent für das Schreiben entdeckt, gibt ihm seine Schwester einen klugen Rat:

Arantxa le dijo que no se lo tomara a pecho y lo animó a dedicar en el futuro sus mayores esfuerzos creativos a la literatura infantil. Mientras escribas para niños, te dejarán tranquilo. Pero ay de ti, chaval, como te metas en líos de la tierra. En todo caso, si te da por escribir para mayores, pon tus historias lejos de Euskadi. En África o América, como hacen otros. (Übersetzung)

Bei Fernando Aramburu ist es umgekehrt: er mischt sich schreibend in die Angelegenheiten seiner Heimat ein, allerdings aus der Ferne, denn der gebürtige Baske lebt schon seit über dreißig Jahren in Deutschland. Und wahrscheinlich ist diese Distanz eine Grundvoraussetzung für den kritischen Blick zurück. Schon 2013 war mit Los peces de la amargura ein mutiges Buch erschienen, eine Sammlung von Kurzgeschichten, in denen Aramburu das Leiden der Opfer des ETA-Terrorismus und den nationalen Heldenkult um die Täter erstmals zum Thema macht und somit Motive und Strukturelemente vorwegnimmt, die er in Patria wieder aufgreift und zu einem packenden Roman verbindet.

Aramburu erzählt im Zeitraum zwischen den 80er Jahren und 2012 die Geschichte zweier gut befreundeter Familien, die der Konflikt um den baskischen Nationalismus zerreißt. Beide wohnen im gleichen namenlosen Dorf in der Nähe von San Sebastian und es verbindet sie vieles, bis der Sohn der einen zum Täter, der Vater der anderen zum Opfer und damit das Leben beider Familien zerstört wird. Es geht in diesem Roman um die Frage nach den Bedingungen von Reue, Verzeihung und Versöhnung in einer Gesellschaft, deren Wunden noch immer offen sind.

Befreiung vom Faschismus

Entstanden war die ETA bereits in den 50er Jahren als eine sich radikalisierende studentische Bewegung, der die Politik der Baskisch Nationalen Partei (PNV) im Kampf gegen den Franquismus nicht mehr konsequent genug war. Im Zentrum standen die Befreiung von faschistischer Unterdrückung sowie die Einheit eines französisch-spanischen Großbaskenlandes – Ziele, die zunehmend jedes Mittel rechtfertigten. Die terroristische Gewalt richtete sich gegen Politiker wie – im spektakulärsten aller Fälle – Luis Carrero Blanco (†1973), die rechte Hand Francos und nach dessen Tod und dem Übergang zu einer demokratischen Gesellschaft dann generell gegen Vertreter spanischer Institutionen, zunehmend aber auch gegen das eigene Volk. Lokale Unternehmer, die nicht oder nicht dauerhaft bereit waren beim erpresserischen Spiel der Entrichtung einer Revolutionssteuer mitzumachen, v.a. aber Polizeibeamte und andere Staatsdiener gerieten als verlängerter Arm des staatlichen Systems ins Visier der ETA.

In Patria wird el Txato zum Opfer des Terrors, erfolgreicher Logistikunternehmer mit Frau und zwei fast erwachsenen Kindern und so sehr Baske, dass man in Kategorien einer populär gewordenen Komödie von 2014 tatsächlich sagen könnte, er verfüge über acht baskische Nachnamen1. Nach dem dritten Erpresserschreiben, auf das er schließlich nicht mehr reagiert, erscheinen immer häufiger verunglimpfende Schmierereien an Hauswänden und Dorfmauern. Freunde und Bekannte wenden sich von der Familie ab und auch Txato selbst bleibt dem Kartenspiel in der Dorfkneipe und den sonntäglichen Touren seines Radsportclubs zunehmend fern. Er steht bereits auf der Liste des talde Oria, einer autonomen Dreimann-Terrorzelle, zu der auch der seit einigen Jahren abgetauchte Sohn seines besten Freundes Joxian gehört. Bei strömendem baskischen Regen wird Txato auf dem Weg vom Wohnhaus zur Garage auf offener Straße erschossen.

Die Opfer müssen sich schämen

Ohne ihr Haus aufzugeben verlässt seine Frau Bittori das Dorf und bezieht eine Wohnung im nahe gelegenen aber anonymeren San Sebastian. Regelmäßig besucht sie das Grab ihres Mannes, nicht etwa im heimatlichen Dorf, sondern im städtischen Friedhof – eine Vorsichtsmaßnahme angesichts der in solchen Fällen nicht unüblichen Grabschändungen. Weshalb Nerea sich dem ohnehin recht spärlich besuchten Begräbnis ihres Vaters entzogen hatte (was Bittori ihr nie verzeiht) wird erst im Laufe des Romans verständlich, denn es hat mit einem besonderen psychologischen Umstand zu tun: Es sind hier die Opfer, die sich schämen müssen, weil sie zur wandelnden Anklage einer ehernen dörflichen Solidargemeinschaft werden. Sie sind ein Dorn im Auge all derer, die den Tätern und ihren Angehörigen und somit all denjenigen nahestehen, die ihr Leben für Euskal Herria und die fixe Idee von einer nationalen Zukunft aufopfern, eine Idee, um die sich in den herriko tabernas alle Gespräche drehen – mal mehr, mal weniger reflektiert und theoretisch fundiert:

Brindaron, bromistas, unipensantes, por los postulados de la Alternativa KAS. Y Joxe Mari ni brindó ni se enteró porque estaba de palique con un chaval de su empresa, de pie a su lado. Le pidieron que opinase.

„Sabéis que no me gusta la política. Me da igual que mande uno o que mande el otro. Yo sólo lucho por una Euskal Herria como pueblo liberado. Lo demás os lo podéis comer con pan y chocolate. Ya lo ha dicho este —por Jokin—: vamos de A a B y cuando lleguemos a B, a mí dejarme tranquilo. Me voy al monte, planto unos manzanos, pongo un gallinero y que os den por el culo a todos.“ (Übersetzung)

Es ist diese selbstbewusst bodenständige Schlichtheit Joxe Maris, des breitschultrigen, wenn auch später etwas zur Korpulenz neigenden Sportlers, des wortkargen Praktikers und frühen Waffennarrs, die ihn so markant von seinem Bruder Gorka unterscheidet. Es ist „intellektuelles Brachland“ in das man im Gespräch mit ihm vorstößt, und doch verkörpert Joxe Mari gerade aus dem revolutionären Untergrund heraus eine heroische Idee, die gesellschaftlich legitimiert ist und kaum hinterfragt wird.

Mit der Scham des Opfers geht immer auch ein Fluchtreflex einher, was den Dörflern freilich nur willkommen ist. Im zentralen Handlungsstrang des Romans durchbricht Bittori nun dieses psychologische Muster, indem sie, zunächst zögerlich, dann mit beharrlicher Beständigkeit eine Bresche in die kollektive Macht derer zu schlagen beginnt, die ihr Schamgefühle aufzwingen wollen und die doch selbst nur Opfer sind: Opfer blinder mütterlicher Loyalität gegenüber dem straffällig gewordenen Sohn, Opfer einer kirchlichen Autorität, die sich aus opportunistischen Motiven die Ideologie der Täter zu eigen macht, Opfer der eigenen Feigheit und der Angst davor, als Verräter des nationalen Ideals selbst ins gesellschaftliche Abseits zu geraten.

Den alten Platz wieder einnehmen

Bittori verfolgt zwei Ziele: Zunächst geht es ihr darum, den alten Platz im Dorf wieder einzunehmen. Sie kehrt erst punktuell, dann immer häufiger in ihr Haus zurück, zeigt gezielt Präsenz und tritt in Kontakt mit einzelnen Personen, die ihr wichtig sind oder die ihr helfen können, die Identität des Mörders ausfindig zu machen, denn sie wünscht sich vor allem eins: Das Eingeständnis der Schuld durch den Täter, dessen Reue und seine Bitte um Verzeihung.

Die Sympathie von Aramburus Patria liegt klar bei den Gewaltopfern und deren Angehörigen und doch ist der Roman weit entfernt von manichäischen Deutungsversuchen. Denn er zeigt auch die schmutzigen Mittel von Polizei und Staatsgewalt in ihrem unerbittlichen Kampf gegen den Terror, verschweigt nicht die Folterpraxis in den Gefängnissen oder die strategisch eingesetzte, auch als kleine Schikane der Angehörigen verstandene Politik der zerstreuten Inhaftierung von ETA-Häftlingen quer durchs ganze Land. Und er deckt dadurch die verhängnisvollen Mechanismen auf, die die Gewalt im Baskenland erst recht eskalieren ließen.

Literarische Finessen

Einige spanische Rezensionen tendieren dazu, dem Roman besondere literarische Qualitäten abzusprechen. Ich halte das für eine Fehleinschätzung. Die dialogreiche Sprache bildet mit einer Vielzahl umgangssprachlicher Redewendungen ein bodenständiges, wenig gebildetes Milieu ab. Doch dieser Umstand alleine lässt noch nicht auf literarische Anspruchslosigkeit schließen, denn der Roman weist eine sorgfältig durchdachte Struktur auf. Er besteht aus 125 Kapiteln, die sich als isolierte Einheiten fast wie Kurzgeschichten lesen. Sie folgen keiner konsequenten Chronologie und zeichnen sich durch eine kaleidoskopartige Perspektivführung aus. In der Regel braucht man einige Zeilen, um sich in Ort, Zeit und Perspektive einzulesen. Dieses Verfahren erzeugt immer wieder Spannungsfelder in Gestalt eines antizipierten Vorwissens, das im Verlauf der weiteren Lektüre dann aus verschiedenen Blickwinkeln auf seine näheren Umstände hin enthüllt wird, und erweist sich somit auch als exzellentes Mittel der Figurencharakterisierung. Die narrative Distanz weicht Aramburu dadurch auf, dass er den Wechsel in die direkte Rede oft völlig unvermittelt und ohne typographische Markierung einleitet. An Arantxas eingangs zitierter Warnung an Gorka zum Beispiel kann man sehen, wie durch dieses Verfahren Figuren- und Erzählerperspektive konvergieren. Auf die Wirkung dieses Stilmittels in der deutschen Übersetzung darf man gespannt sein. Das Lokalkolorit wird durch spezifisch baskische Begriffe aus dem Kontext des nationalistischen Widerstands gewahrt, die man am Ende des Buches alphabetisch gelistet nachschlagen kann.

Trauer und Heldenkult

Seine großen Stärken zeigt der Roman auf psychologischer Ebene und in der Entfaltung intersubjektiver Dynamiken, denn die Konflikte reichen bis ins Innerste der beiden Familien: Da sind die Witwe und die Kinder Txatos, die alle drei jeweils auf ihre Weise versuchen, den Verlust zu bewältigen, wobei sie sich oft gegenseitig das Leben schwer machen. Da ist auf der anderen Seite Joxe Maris Vater Joxian, ein etwas feiger aber gutmütiger Stahlarbeiter. Er trauert um den Freund, wagt es aber nicht, das zu zeigen und leidet zugleich an der Dominanz seiner Frau Miren, die sich mit dem Verschwinden des Sohnes politisch radikalisiert und dem bedingungslosen Heldenkult verschreibt. Da ist außerdem der bereits erwähnte Gorka, der als sensibler Jugendlicher einen Mittelweg zwischen äußerer Anpassung an die Dorfjugend und seinen leidenschaftlichen Lektüreinteressen finden muss und sich schon früh mit der Präpotenz seines Bruders abfindet:

Y como la cama de Joxe Mari lindaba con la ventana, no había sitio suficiente para sus carteles ni para toda aquella decoración deportiva y patriótica con que gustaba de adornar la habitación compartida. Conque hoy un póster, mañana un cuadro, iba invadiendo la zona de Gorka, cuya mesilla quedaba justo debajo de un cartel con el hacha y la serpiente y el lema Bietan jarrai. El único póster de Gorka era una reproducción de gran tamaño de la célebre foto de Antonio Machado en el Café de las Salesas.

—¿ Quién hostias es ese?

—Venga, lo sabes de sobra.

—No, en serio. ¿El abuelo de Tarzán?

—Un poeta.

Era de la conocida humorada: justo la respuesta que Joxe Mari estaba esperando para arrancarse con su particular versión

Oh, poeta, que bellos versos compones, bájame la braguetay tócame los cojones.

Ausente Gorka, Joxe Mari le dibujó al retrato de Antonio Machado, con rotulador, un bigote y unas gafas negras de ciego, y le puso junto a la boca un globo de cómic donde podía leerse: Gora ETA. Y se mofaba asegurando con expresión socarrona que el viejo del sombrero sabía lo que se decía. Gorka, resignado, incluso apático, se dejaba humillar. Para disgusto de Arantxa, que lo reprendía a menudo por ese motivo:

—¿ Por qué no te defiendes? ¿Por qué no le llevas la contraria?

—Prefiero que no se enfade.

—¿ Le tienes miedo?

—Un poco.

(Übersetzung)

Gorka wird später bei einem Radiosender in Bilbao arbeiten und damit vorerst einen würdigen Ersatz für das Schreiben finden. Davon, dass er homosexuell ist, wird seine Familie erst zum Zeitpunkt der Hochzeit mit seinem Freund erfahren, zu der man – bei allen Vorbehalten – dann doch kollektiv anrückt. Und da ist schließlich seine Schwester Arantxa, seit einem Schlaganfall querschnittsgelähmt. Sie ist diejenige, die am Ende zwischen Bittori und dem noch inhaftierten Joxe Marie vermittelt und es zur lange ersehnten Entschuldigung kommen lässt.

Das Leiden der Täter

Abschließend noch ein Blick auf die inhaftierten Täter: Aramburu zeigt glaubwürdig, wie sie in der Endphase der ETA fertig werden müssen mit dem Verlust dessen, was für sie zu einer Ersatzfamilie geworden ist, mit dem Verlust von Jahrzehnte überdauernden Loyalitätsstrukturen im Inneren, nach außen hin mit dem spürbaren Bröckeln des Rückhalts in der baskischen Bevölkerung. Es ist das fatale Gefühl des Im-Stich-gelassen-Werdens, das überhaupt erst die Konfrontation mit sich selbst möglich macht und zu bitteren Einsichten kommen lässt:

Sus cavilaciones, las de una conciencia en la que poco a poco habían dejado de resonar consignas, argumentos, toda esa chatarrería verbal/sentimental con la que durante largos años él había oscurecido su verdad íntima. ¿Y cuál era esa verdad? Cuál va a ser. Pues que había hecho daño y había matado. ¿Para qué? Y la respuesta le llenaba de amargura: para nada. (Übersetzung)

Spätestens wenn el Txatos sterbliche Überreste auf den Dorffriedhof überführt werden, wird klar, dass hier der Patriotismus der Opfer am Ende ausdauernder war. Und doch hat die Bewältigung der baskischen Vergangenheit auf literarischem Terrain gerade erst begonnen – mit einem beeindruckenden Buch.

Dieser Beitrag ist Teil des Grabungsfelds Baskenland

Cover Aramburu

Fernando Aramburu: Patria

Spanisch / Tusquets 2016 / 648 Seiten / ISBN  978-8490663196

Deutsch / Rowohlt 16.1.2018 / 768 Seiten / ISBN 987-3498001025