Vicente Blasco Ibañez: El intruso (1904)

Wenn man Ibon Zubiaur glaubt, der einen spannenden Essay über das Baskenland geschrieben hat, dann entstammt der große Roman Bilbaos der Feder nicht etwa eines Basken sondern eines Valencianers: Am Beispiel des Industrie-Magnaten Pedro Sanchez Morueta und seiner Familie portraitiert Vicente Blasco Ibañez in seinem 1904 veröffentlichten Roman El Intruso („Der Eindringling“) lebendig den rasanten wirtschaftlichen Aufstieg der industriellen Unternehmerelite Bilbaos im ausgehenden 19. Jahrhundert. Die damit verbundenen sozialen Verwerfungen seziert er als Vertreter des literarischen Naturalismus mit einer quasi-wissenschaftlichen Akribie, die den französischen Vorbildern kaum nachsteht.

Schon zu Lebzeiten galt Blasco Ibañez (1867-1928) als Vielschreiber – und wurde begeistert gelesen! Am bekanntesten ist er dem Publikum wohl durch die Verfilmung seines Romans „Die vier Reiter der Apokalpse“ geworden. Seine Beliebtheit hat vermutlich viel damit zu tun, dass er es verstand, die Leidenschaft seines politischen Engagements für die republikanische Sache auch in der Literatur spürbar werden zu lassen, und zwar in einer Zeit, in der sich in Spanien mit den Carlisten zunehmend wieder die monarchisch-konservative Seite durchsetzte und wahre Dämme errichtet wurden gegen jede Welle aufklärerischen Gedankenguts, die aus Frankreich herüberschwappte. Blasco Ibañez setzte in seiner Heimatstadt Valencia mit unerschöpflicher Energie republikanisch-antimonarchistische Positionen durch und ätzte immer wieder vehement gegen die Kirche. Für verschiedenste Entgleisungen ging er nach eigenen Aussagen rund dreißig Mal ins Gefängnis. Ein temperamentvoller, bis ins Extreme streitbarer Charakter also – auch in seinen Romanen.

Die Provinz Biskaya hatte sich seit den 1880er Jahren  zu einem der weltweiten Zentren für die Verhüttung von Eisenerz entwickelt und das vormals ländlich geprägte östliche Baskenland war – neben Katalonien – zur wirtschaftlich stärksten Region Spaniens aufgestiegen. Es war eine Zeit, in der geschäftstüchtige Basken wie Sanchez-Morueta innerhalb weniger Jahrzehnte zu Millionären werden konnten und ihren Reichtum mit der rustikalen Diskretion des einstigen Fischers oder Seefahrers zur Schau stellten. Es war auch die Zeit eines teils noch naiven wissenschaftlichen Fortschrittsoptimismus, denn Technik bildete die Basis für den neu gewonnenen Reichtum: Henry Bessemer hatte 1855 erstmals ein Verfahren entwickelt mit dem es möglich wurde, Stahl günstig in Massenproduktion herzustellen. Ganz in der Tradition der Franzosen, vor allem Zolas, finden sich auch in Blascos Intruso verblüffend detailgetreue Schilderungen des Verfahrens der Eisenverhüttung, die von Wissenshaftshistorikern noch heute als erstrangige Quellen herangezogen werden.

Rustikaler Fortschrittsoptimismus

Doch der fortschrittsoptimistische Enthusiasmus bleibt im Roman gebrochen, denn ebenso gestochen scharf wie das atemberaubende Spektakel der Eisenverhüttung fällt andererseits auch das Portrait der dunklen Kehrseite dieser Frühphase der Industrialisierung aus: die erbärmlichen Arbeits- und Lebensbedingungen der Massen mittelloser Gastarbeiter, die überwiegend aus den ärmeren Regionen Spaniens ins Baskenland eingewandert waren, um ihren Familien zu Hause das Überleben zu sichern. Ihr Elend erscheint im Roman vermittelt aus der Perspektive des Minenarztes und großen Aufklärers Dr. Luis Aresti, einem Cousin von Sanchez Morueta, der sich – dem Adelsdünkel seiner Frau schon früh entfremdet – getrennt von ihr in Gallarta, einem nördlichen Vorort von Bilbao, mitten unter den mineros niedergelassen hat. Hier huldigt er nun seinem eigenen Götzen: der Wissenschaft. Einem dantesken Höllenabstieg gleich wird Aresti in einer Mischung aus Faszination und Schaudern vom jungen Ingenieur Sanabre durch die Industrieanlagen geführt:

Aresti admiraba á los trabajadores, que estaban allí como en su casa, habituados á una temperatura asfixiante, moviéndose como salamandras entre arroyos de fuego, enjutos, ennegrecidos cual momias, como si el incendio hubiese absorbido sus músculos, dejándoles el esqueleto y la piel. Iban casi desnudos, con largos mandiles de cuero sobre el cuerpo cobrizo, como esclavos egipcios ocupados en un rito misterioso. El calor les hacía exponer sus miembros al chisporroteo del hierro, que volaba en partículas de ardiente arañazo. Algunos mostraban las cicatrices de horrorosas quemaduras. (Übersetzung)

 Wie begegnet man Armut, Krankheit, Ausbeutung und Alkoholismus der unterdrückten Arbeiterklasse? Es fällt auf, dass Blasco diese Frage im Roman wenig politisch angeht und vor allem anders als Zola, der in Germinal bereits Möglichkeiten der aufkommenden sozialistischen Arbeiterbewegungen im Kampf gegen die herrschende Klasse der Ausbeuter und Industriellen durchspielt. El Intruso ist vielmehr eine großangelegte Studie der soziologischen Faktoren, die einer politischen Lösung des Problems noch hemmend entgegenstehen. Gerade das ist aber spannend und macht ihn wohl auch zu einem der großen Romane des Baskenlandes. Drei Bereiche möchte ich herausgreifen: Konservative Traditionsverhaftung, Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit, die Rolle der Frau und die Übermacht der Kirche in der baskischen Gesellschaft.

Ein Cocktail aus Ängsten

Man kann es nur als ausgesprochene Xenophobie im Dienste der Besitzstandswahrung bezeichnen, was sich da an Emotionen gegen die zu Tausenden eingewanderten spanischen Gastarbeiter – die „odiosa Maketanía“ zusammenbraut: Ein Cocktail aus Ängsten vor dem Import politischen Liberalismus und Atheismus – Kräften also, die den neu gewonnen Reichtum der führenden Schicht zu bedrohen scheinen, vielleicht aber auch das dräuende schlechte Gewissen, das die augenfällige soziale Kluft, die sich da aufgetan hat, theoretisch zu rechtfertigen sucht. Gerade in konservativ-kirchennahen Kreisen werden Parolen laut, wie sie Fermín Urquiola, vielversprechender Absolvent der traditionsreichen Jesuitenuniversität Deusto und Wunsch-Schwiegersohn Doña Cristinas, der bigotten Gattin Sanches Moruetas, gern zum besten gibt:

Que no le hablasen á él del populacho de las minas corrompido y sin fe; hombres de todas las provincias, maketos llegados en invasión, trayendo con ellos lo peor de España, contaminando con sus vicios la pureza del país; siempre descontentos y amenazando con huelgas, deseando el exterminio de los ricos y comparando su miseria con el bienestar de los demás, como si hasta en el cielo no existiesen categorías y clases. (Übersetzung)

Es ist wissenschaftlich hinreichend abgesichert, dass mit dem Aufkommen der baskisch-nationalistischen Partei im Jahr 1895 ein Prozess der Ideologisierung des Baskentums einsetzte, der nicht anders als rassistisch bezeichnet werden kann. Begriffe wie „Reinheit“ der baskischen Nation und „Kontamination“ durch fremde Elemente legen diesen Zusammenhang im Zitat Urquiolas schon nahe.

Christliche Odalisken

Interessant ist nun, dass der Patriarch Sanchez Morueta aus den sozialkritischen Reflexionen des Romans weitgehend herausfällt. Er erscheint vielmehr als gespaltener Charakter, liberalen Gedanken nahe- und der Kirche distanziert gegenüberstehend. Als gebrochene Gestalt und Opfer seines eigenen Glücks hat er einiges mit Aresti selbst gemein: Die gesellschaftliche Dynamik der Zeit, an der selbstverständlich vorrangig die Männer gestaltend teilhaben, fordert ihren Tribut, indem sie zugleich deren private Existenzen zerstört: Beide haben sich von ihren Frauen entfremdet, der eine durch Karriere und schnelles Geld, der andere, weil er seine aufgeklärten Gedanken gerne mit einer Partnerin geteilt hätte, deren klerikal geprägter Horizont dafür aber noch allzu begrenzt ist. So wenig Aresti im Stande ist, diese gesellschaftliche Vorprägung – Simone de Beauvoir würde hier von der Immanenzverhaftung der Frau sprechen – zu durchbrechen, ebenso wenig vermag auch Sanchez Morueta noch Zugang zu seiner Frau zu finden. Da die rigiden, kirchlich geprägten Moralvorstellungen es Frauen zudem unmöglich machen, ihren Reichtum auch zu genießen, bleibt diesen nur die Flucht in eine Art Stockholm-Syndrom: Gefangen in ihrem goldenen Käfig ergreifen sie die einzig sich ihnen darbietende Möglichkeit zur Selbsttranszendenz und landen dabei – gut ausgestattet mit den finanziellen Mitteln ihrer Männer – direkt im Schoß der Jesuiten:

Veíanse obligadas á una vida de harem; siempre mujeres con mujeres, viendo sólo al hombre en el preciso momento del deseo y el hábil jesuíta se presentaba como un remedio á su tristeza, entretenía su fastidio con una devoción dulzona y afeminada, era el eunuco guardián, el verdadero amo, dirigiendo á su antojo al tropel de odaliscas cristianas. Así llegaba desde la sombra á apoderarse de la voluntad de los hombres, los cuales se movían, sin conocer el impulso de sus acciones. (Übersetzung)

Die orientalische Variante der Unterdrückung der Frau im Harem in die eigene Kultur rückzuspiegeln ist nicht neu, sondern ein klassisches Argumentationsmuster der französischen Aufklärung, das hier direkt gegen die verhasste Kirche ausgespielt wird. So sehr Blasco Ibañez die Zuwendung der reichen Aristokratinnen zu den Jesuiten als emotionale Prostitution zu entlarven sucht – es handelt sich hier doch um ein Bündnis, das die Frauen in eine unerwartete Machtposition bringt: Die „piedad de las señoras“ ist es nämlich, die die neu entstehenden kirchlichen Prachtbauten finanziert und damit einen nicht unerheblichen Teil der Geldflüsse aus dem Minengeschäft kanalisiert. Und schließlich gibt die Zuwendung zu den Jesuiten den reichen Frauen der aristokratischen Gesellschaft auch eine gewisse Macht über ihre Männer zurück: Der alternde, von einer außerehelichen pariser Affäre bitter enttäuschte und über sein persönliches Glück resignierende Sanchez Morueta wird mit abnehmender Vitalität in eine immer stärkere Abhängigkeit von seiner Frau geraten, seine frühere Distanz zum Klerus gezwungenermaßen überwinden und zur Zufriedenheit aller außer Arestis (und vermutlich auch seiner selbst) schließlich wieder in den Schoß der Kirche zurückfinden.

Fromme Parasiten

Für Blasco Ibañez  ist die Kirche selbst also der „Intruso“, der Eindringling, der sich parasitär und unter Berufung auf sein uraltes Machtprivileg zerstörerisch in die öffentlichen und privaten Beziehungen der Menschen drängt und jeden Schritt in Richtung einer gerechteren, liberal gesinnten Gesellschaft unterbindet. Für spanische Verhältnisse dürfte diese Kritik nicht überraschen, war die iberische Halbinsel doch nach der Beseitigung des letzten maurischen Königs 1492 zur Hochburg eines Katholizismus geworden, der seine Ansprüche bekanntlich mit Säge und Pfahl, Judaswiege und Ketzergabel durchzusetzen verstand. Dass es nun gerade der intellektuell ambitionierte Jesuitenorden ist, der Blasco vors Visier läuft, ist historisch plausibel – der Heilige Ignatius, Gründer des Ordens, stammte bekanntlich aus Loyola, einem kleinen Dorf in der baskischen Provinz Guipuzkoa; es ist aber auch notwendig für die argumentative Struktur eines Romans, der sich über weite Strecken als aufklärerische Streitschrift präsentiert. In diversen Diskussionen bedient sich Aresti des gesammelten Arsenals antiklerikaler Argumente der französischen Aufklärung. Dass die gerade für ihre rhetorischen Fähigkeiten berühmten Jesuiten hier ein wenig unterperformieren ist aus meiner Sicht eine Schwäche des Romans.

Ambivalent auch der Ausgang, der nur eine gewaltsame, wenn auch ästhetisch reizvoll inszenierte ‚Lösung‘ des Problems anbietet. Am Tag des Patronatsfestes für die Virgen de Begoña, allseits verehrte Stadtheilige und symbolisches Gravitationszentrum jesuitischer Macht in Bilbao, wird die geplante Prozession von den versammelten, aus den Minen ins Stadtzentrum zusammengelaufenen Anhängern der Republik gesprengt: „Eran los guiris, los ches, la España en armas que llegaba“. Es kommt zu Handgreiflichkeiten, Schüssen und ganz nach revolutionärem Vorbild schließlich zu einem regelrechten Bildersturm:

Los santos eran arrojados de sus capillas y arrastrados después hasta la ribera, entre las patadas y salivazos de la turba, que quería vengar en aquellos cuerpos de palo, pintados y dorados, la sangre derramada por otros de músculos y hueso. ¡Al agua los santos! Y caían de cabeza en la ría las vírgenes y los bienaventurados, flotando después de la inmersión con la ligera porosidad de la madera vieja. (Übersetzung)

Im Tumult kommt es auch zu einer letzten Begegnung zwischen Sanchez Morueta und Aresti, ersterer im pompösen Gefolge der Frommen, letzterer auf Seiten der Aufständischen. Der Graben, der die beiden einst eng Vertrauten jetzt trennt, könnte tiefer nicht sein, was der Autor in einer Szene festhält, die an Goyas Duelo a garrotazos erinnern mag: Sanchez Morueta mit erhobener Faust einem der ‚Gottlosen‘ drohend weicht beim Anblick Arestis verschämt zurück, worauf dieser ihm ins Gesicht spuckt. Noch bleibt es, ja bis heute ist es der unerfüllte Traum des Aufklärers geblieben: Der Sturz der falschen Heiligen und ihre Verbannung ins Museum:

Bajarían de sus altres como habían descendido los dioses del paganismo cuando les llegó su hora, siendo más hermosos que ellos. Quedarían en los museos entre las divinidades del pasado, sin lograr siquiera, en su fealdad, la admiración que inspira la armoniosa desnudez: se confundirían con los fetiches grotescos de los pueblos primitivos, y la humanidad, incapaz ya de envolver en formas groseras sus aspiraciones y anhelos, adoraría en el infinito de su idealismo las dos únicas divinidades de la nueva religión: la Ciencia y la Justicia Social. (Übersetzung)

El Intruso ist ein Roman über die spanische Industrialisierung, der – historisch nachvollziehbar – auf halbem Wege steckengeblieben ist. Als solcher ist er aber ungemein farbig und fesselnd. Der Stern der katholischen Kirche in Spanien begann formell erst nach dem Tod Francos zu sinken. Mit Ausnahme einiger nach wie vor begeistert zelebrierter volkloristischer Spektakel wie die Semana Santa hat die Säkularisierung seitdem tief in die spanische Gesellschaft hineingewirkt. Und heute hadert nicht nur Spanien mit den Kollateralschäden der „neuen Religion“: einem immer noch ungesunden Verhältnis von Wissenschaft, Wirtschaft und sozialer Gerechtigkeit.

Dieser Beitrag ist Teil des Grabungsfelds Baskenland

Ich habe den Roman im Original als Kindle E-book gelesen (ASIN B004UITVEO). Die, soweit ich sehe, einzige deutsche Übersetzung von Elisabeth und Otto Albrecht von Bebber ist unter dem Titel „Der Eindringling“ (1930) antiquarisch verfügbar.